Als ihre alte Mutter beleidigt fragte, warum sie denn schon weg müsse und wohin sie überhaupt fahren wollte, erwiderte sie „Zum Friedhof“. Diese Antwort, das wusste sie, verschonte sie vor weiteren Fragen und Vorwürfen. Wäre sie ehrlich gewesen, dann hätte sie geantwortet, dass sie ihre Ruhe haben wollte, um endlich einmal über sich und ihr bisheriges Leben nachdenken zu können. Aus Mitleid und Feigheit zog sie es jedoch vor, zu lügen, statt die Wahrheit zu sagen. Andererseits konnte sie die alte Frau gut verstehen, dass diese möglichst viel von der wenigen Zeit, die noch blieb, mit ihr verbringen wollte. Jetzt, wo sie alt und bettlägerig war, und in einem Pflegeheim im Grunde nur noch auf den Tod wartete. Sie waren Mutter und Tochter. Bevor die Mutter krank und alt wurde, hatte diese sich allerdings nicht sonderlich viel aus ihrer Tochter gemacht. Sie war eine Lebefrau gewesen, deren einziges, egoistisches Ziel es war, sich selbst zu verwirklichen.
Die Tochter war früh von zu Hause fortgegangen. Viele Jahre war sie fort gewesen, hatte sich in der weit entfernten Hauptstadt ein eigenes Leben mit Familie und Geschäft aufgebaut. Jetzt wurde sie von einer inneren Unruhe daran erinnert, dass man dort sehnlichst auf ihre Rückkehr wartete. Obwohl sie wusste, wo ihr Zuhause war, war sie gefühlsmäßig dennoch hin- und hergerissen, zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Gefühl und Verstand. Ihr kopf sagte ihr, dass sie schon bald wieder zurück musste, weil ihr Mann, ihre Kinder und Angestellten sie brauchten. Doch hing ihr Herz schmerzlich an den Erinnerungen an eine andere Zeit, als sie ein völlig anderer Mensch gewesen war. Sie liebte die Natur, sehnte sich nach ihr zurück. Da war ein Schmerz, der sich so ähnlich wie Liebeskummer anfühlte, der einem den Magen zuschnürt, sobald man an den verlorenen Geliebten denkt. Und dennoch weiß man, dass da noch immer eine starke Verbindung besteht. Das spürte sie, als sie ihr Auto unbewusst, beinahe traumwandlerisch dorthin lenkte, wo sie den schönsten Abschnitt ihres Lebens verbracht hatte. Als Kind war sie von ihrer Mutter zu den Großeltern gegeben und von denen aufgezogen worden. Ihnen gehörte ein Bauernhof auf einem Berg, der inmitten von Blumenwiesen, Feldern und Wäldern lag. Gegenüber, auf einem kleinen Berg, stand eine Kirche mit einem malerischen Zwiebelturm. Ein fast schon unwirklich romantischer Friedhof umgab, oder besser, umschmeichelte die Kirche wie Efeuranken. Das Familiengrab ihrer Großeltern lag unter alten Birken, deren Blätter immer etwas zu erzählen hatten. Die leiseste Brise entlockte ihnen ein aufgeregtes Flüstern.
Als sie auf der Fahrt auf engen Landstraßen, auf der ihr irgendwann nur noch Traktoren mit Pflügen oder Anhängern begegneten, vor dem Grab ihrer Großeltern stand und ein Gebet für sie sprach, wanderte ihr Blick zu den sich im Wind wiegenden Birkenkronen hoch. In den vergangenen 50 Jahren waren aus den kleinen Bäumchen, die sie zusammen mit ihrer Großmutter gepflanzt hatte, imposante Bäume geworden. Das Rauschen der kleinen, gezackten Blätter beruhigte sie. Es war genauso wie früher, da wurde sie immer ganz müde davon. Während ihre Großmutter das Grab goss und das Unkraut auszupfte, saß sie im Gras und schaute schläfrig zu.
Sie setzte sich ins Gras uns lehnte sich an einen Baum. Wirre Gedanken an ihre Familie und Sorgen ließ sie ungehindert kommen und gehen. Sie hatte keine Lust einen davon festzuhalten. Sie war einfach nur hier. Das genügte. Von ihrem Platz aus konnte sie auf die etwa einen Kilometer entfernte, gegenüberliegende Anhöhe schauen, wo der Bauernhof ihrer Großeltern stand. Immer noch lag er inmitten von Feldern und Wiesen, doch gehörte er nicht mehr ihrer Familie. Sie fragte sich, ob ihr Leben anders verlaufen wäre, wenn Mutter den Hof nach dem Tod der Großeltern nicht verkauft hätte und mit dem Geld über Nacht abgehauen wäre. Sie wusste es nicht, und eigentlich war es ihr auch egal. Jetzt zählte nur dass sie hier war und nichts als Frieden spürte. Sie überlegte, ob sie sich auf den Weg machen sollte, um den jetzigen Eigentümern Einen Besuch abzustatten. Spazierte im Geiste schon den Feldweg entlang, der neben einem kleinen Bach verlief. Auf ihm war sie früher an der Hand ihrer Großmutter gelaufen. Sie dachte an ihre kleine Enkelin. Mit ihr würde sie diesen Weg gehen wollen. Doch alleine? Die Vorstellung, den Berg hinaufzugehen, nur um irgendwelchen fremden Leuten „Grüß Gott“ zu sagen, kam ihr mit einem Mal gar nicht mehr verlockend vor. Ja, da war es wieder, das Gefühl der Sehnsucht. Da wurde ihr klar, dass sie nicht ihre Vergangenheit vermisste, sondern ihre Zukunft, ihre Familie, die sehnsüchtig darauf wartete, dass sie wieder nach Hause kam.
2. Versuch einer Erzählung über Rückkehr
Ist es Zufall oder ein Zeichen des Himmels, dass der Tag ihrer Rückkehr genau auf den Tag fällt, an dem sie vor 25 Jahren das kleine Heimatdorf verlassen hat? 25 lange Jahre hat sie ihre Eltern nicht gesehen. Nur gehört. Manchmal hatte sie mit ihnen an Geburtstagen oder an Weihnachten telefoniert.
Während der Autofahrt vom Flughafen in das Dorf vergleicht sie die Landschaft, die außerhalb des Fensters im Fond des schwarzen Mercedes an ihr vorübereilt, immer wieder mit jener, die sie ihr halbes Leben in ihrem Herzen mit sich herumgetragen hat. Am Anfang, nachdem sie weggegangen war, tat es sehr weh, wenn sie an die jadegrünen Weizenfelder und sattgrünen Wiesen, zwischen denen sie aufgewachsen war, dachte. Im Laufe der Zeit wurde der Schmerz leichter und erträglicher. Sie arrangierte sich, und von ihrem Verstand wurde sie immer wieder vor dem Absinken in allzu dunkle, traurige Gedanken gerettet. Immer wieder beteuerte er, welch fabelhaftes Leben sie doch führte. War aus ihr nicht eine große Dame geworden, die von allen Frauen dieser Welt beneidet wurde?
Beruhigt stellt sie fest, dass sich während ihrer langen Abwesenheit eigentlich nicht so viel verändert hat. Abgesehen von einer Autobahn, von der die früher so schöne Landschaft hässlich zerschnitten wird. Oder von den hohen Türmen, die zu einem stillgelegten Atomreaktor gehören. Ja, und dann sind da viele neue Häuser, denen man ansieht, dass aus der einstmals doch recht armen Gegend ein wirtschaftlich florierendes Gebiet geworden ist. Doch sie macht sich nur was vor. Sie verschließt ihre dunklen, traurigen Augen vor der Wahrheit. Die Wiesen und Wälder, die sie früher als Kind stundenlang, oft bis in die Nacht hinein durchstreift hatte, sind verschwunden. Sie mussten nüchternen Fabrikhallen, die sich quer über das Flusstal ausbreiteten, weichen. In ihnen schuften seit vielen Jahren Menschen. Für ein großes Unternehmen. Aus den Jungen, die früher hinter ihr her waren und die ihr die Sterne vom Himmel versprachen, sind erwachsene Männer mit alten Gesichtern und gebeugten Rücken geworden. Sie sind mit Frauen verheiratet, mit denen sie ein Eigenheim, zwei Autos und zwei erwachsene Kinder haben, und die es wie ihre Eltern als Privileg ansehen, in dem großen Unternehmen arbeiten zu dürfen. Als Kind, später als junge Frau, wünschte sie sich immer, so zu sein, wie die anderen Mädchen des Dorfes. Doch wollten die nichts mit ihr zu tun haben. Sie sahen, dass sie sehr hübsch, vor allem aber, dass sie anders war. Deshalb wurde sie gemieden, in der Schule, in der Nachbarschaft, im ganzen Dorf. Obwohl ihre Eltern sie immer wieder ermahnten, sich um eine Freundin zu bemühen, und sie es auch lange Zeit versuchte, konnte sie irgendwann nicht anders, als vor der eisigen Wand, die aus dem Hass der Mädchen errichtet worden war, zu kapitulieren. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Isolation zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Dann nahm sich ein junger Mann, der in sie verliebt war, das Leben. Statt an einer Schuld, die nicht ihre war, zu verzweifeln, nützte sie die Einsamkeit, um sich von den Ängsten und Zwängen, die nicht ihre eigenen waren, zu befreien und flog vor genau 25 Jahren wie ein Adler über die Grenzen des kleinen Bauerndorfes hinweg. Sie hatte nichts zu verlieren. Nie wieder in ihrem Leben wollte sie dorthin ihren Fuß setzen
Vergessen ist aber eine Gnade, mit deren Hilfe der Mensch seinem Nächsten viel verzeihen kann.
Als sie das Dorf erreichen, bittet sie ihren Chauffeur, langsam zu fahren. Sie ist angespannt und aufmerksam, ist bereit, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Das neue Kupferdach des Kirchturms, der wie eine grüne Zwiebel aussieht, lenkt ihren Blick auf sich. Der Dorfplatz wirkt mit den ordentlich zugeschnittenen Buchsbüschen und den symmetrisch angeordneten Rosenstöcken fremd, irgendwie unnatürlich herausgeputzt. Der heruntergekommene Seitenflügel des kleinen Schlosses, das direkt neben der Kirche steht, wurde abgerissen und durch ein neues Haus ersetzt. Dort, wo sich früher die Dorfjugend unter einem ausladenden Haselnussbaum traf, steht eine Holzbank, auf der sich zwei halbwüchsige Jungen breitgemacht haben. Der äußere Charakter des Dorfes hat sich verändert. Renovierte und neue Häuser mit ordentlich bepflanzten Vorgärten, in denen wertvolle Keramikfiguren und bunte Windräder präsentiert werden, säumen ordentlich aufgereiht die Dorfstraße. Es sieht netter aus als früher, doch wirkt die Atmosphäre erzwungen kitschig, gekünstelt, ja ungemütlich.
Der Fahrer bringt sie zum Haus ihrer Eltern. Dort weiß man Bescheid, dass sie kommt. Als sie aus dem Auto steigt, registriert sie unbewusst, dass die Straße, in der die Eltern wohnen, für einige Momente die Luft anhält. Kein Mensch ist zu sehen, doch spürt sie unzählige Augenpaare auf sich gerichtet. Sie weiß, wie ihre herrschaftliche Erscheinung auf Menschen wirkt; zumindest auf fremde, die nichts von ihrer Vergangenheit wissen. Die Welt außerhalb der Grenzen dieses Dorfes liegt ihr zu Füßen, verehrt sie. Entsprechend selbstbewusst und offen bewegt sie sich in ihr. Doch was wird sein, wenn sie jetzt ihren alten Eltern gegenübersteht? Wird sie wieder zu der jungen Frau, wegen. der sich der einzige Sohn des Bürgermeisters einen Tag vor seiner Hochzeit mit einer anderen das Leben genommen hat? Ihre Eltern hatten sich damals auf die Seite des Dorfgeschwätzes gestellt und sie, ihre einzige Tochter, beschuldigt, dem jungen Mann den Kopf verdreht zu haben. Sie sei Schuld an seinem Tod und am Unglück seiner Familie. Der Bürgermeister dankte es ihren Eltern damit, dass sie weiterhin in ihrem kleinen Häuschen am Ende des Dorfes wohnen durften und nicht, wie sie, aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen wurden.
Sie hört Stimmen und Gelächter. Noch bevor sie die Klingel drückt, öffnet sich die Haustüre. Ihre Eltern stehen vor ihr. Beide, mit Tränen in den Augen, versuchen, sie ungeschickt zu umarmen. „Komm herein! Das ganze Dorf ist da!“ Ohne ihre Antwort oder Reaktion abzuwarten, wird sie ins Haus gezogen. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht. Schwindel überkommt sie, als sie vor all den bekannten und doch fremden Menschen steht, die sie wie eine verlorene Tochter begrüßen und ihr stolz oder schüchtern zu ihrem großen Welterfolg gratulieren. Am liebsten würde sie auf dem Absatz umdrehen und schreiend davonlaufen. Doch sie tut es nicht, sondern schüttelt ihren früheren Verleumdern und Richtern lachend die Hände. Als ihr eine abgehärmte Frau, in der sie die Verlobte des toten Bürgermeistersohnes erkennt, schüchtern die kalte, faltige Hand entgegenstreckt, nimmt sie diese zwischen ihre warmen, weichen Hände und lügt, so wie es von ihr erwartet wird: „Schön, endlich wieder in der Heimat zu sein!“
3. Versuch einer Erzählung über Rückkehr
So lange es ging, wollte die alte Dame in den eigenen vier Wänden leben, und wenn es so weit war, darin auch sterben. Dann stolperte sie über das Telefonkabel, fiel hin und brach sich ein Bein. Ein halbes Jahr vegetierte sie als Pflegefall in einem grauen Pflegeheim in Schöneberg vor sich hin. Dabei hatte sie Glück gehabt, dass ausgerechnet am Tag des Unglücks der Postbote mit einem Paket vor der Türe gestanden war. Der hatte ein Wimmern durch die Haustüre gehört und den Rettungsdienst verständigt. Die Türe wurde aufgebrochen und die alte Dame sofort in die Klinik eingeliefert. Als Vormund war ein staatlicher Betreuer bestimmt worden. Der kümmerte sich um alle Formalitäten, regelte die Finanzen und veranlasste nach dem Klinikaufenthalt die Verlegung in das Schöneberger Pflegeheim. Die alte Dame starb.
Daraufhin bekam die Tochter der alten Dame einen Brief vom Berliner Sozialamt. Zwei Wochen hatte es gedauert, bis er sie im australischen Sydney erreicht hatte. Dorthin war die Tochter vor vierzig Jahren ausgewandert und hatte seitdem keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter gehabt. In dem Brief teilte man ihr mit, dass ihre Mutter gestorben sei, dass man sie eingeäschert und auf dem Schöneberger Friedhof anonym beerdigt hatte. Die Kosten in Höhe von 1500 Euro sollte sie umgehend auf das angegebene Konto überweisen. Informationen über die ungefähre Grabstelle könne sie gegebenenfalls bei der Friedhofsaufsicht einholen. Sie überlegte lange, ob sie das Geld für eine Reise nach Berlin ausgeben sollte. Was hatte es für einen Sinn, die tote Mutter, die irgendwo anonym in einer Urne verscharrt worden war, aufzusuchen. Bei diesem Gedanken stieg aber das schlechte Gewissen in ihr hoch. Es verschwand erst wieder, als sie im Flieger nach Deutschland saß.
Vor 40 Jahren, als sie Berlin Lebewohl gesagt hatte, durchtrennte der Eiserne Vorhang die Stadt. Beim Landeanflug auf Tegel blickte sie auf eine grüne Ebene, die sich im Schachbrettmuster weit über die Stadt erstreckte. Bei ihrer Ankunft hatte sie zunächst Probleme, sich auf dem geschäftigen Flughafen zurechtzufinden. Früher war es dort ruhig und verschlafen gewesen. Davon war jetzt keine Spur mehr. Allerdings stellte sie fest, dass die Stadtplaner sich keine Gedanken darüber gemacht hatten, wie die vielen Flugreisenden vom Flughafen in die Stadt kommen sollten. Es gab weder Bahn noch U-Bahn. Man musste mit dem Bus oder dem Taxi fahren. In Sydney war so etwas undenkbar. Sie hatte keine Lust, sich mit ihrem großen Koffer durchzufragen, wann und wo der nächste Bus in die City fuhr, und wollte in eines der Taxis, die vier den Ausgängen parkten, einsteigen. Doch der Fahrer mit einem schweren russischen Akzent belehrte sie schnell eines Besseren: „Darf Sie nicht fahren. Sie missen nach vorn, an den Kopf derrr Schlange gähen.“ Er deutete auf die gegenüberliegende Flughafenseite. Ein türkischer Fahrer, in dessen Wagen sie mit anatolischer Hochzeitsmusik beschallt wurde, wollte sie für 30 Euro nach Schöneberg bringen. „Der Bus wäre schneller und das Busticket günstiger gewesen!“ ärgerte sie sich, als sie im Stop-and-Go-Tempo über die Stadtautobahn Richtung Nordosten dahinkrochen. „Na ja, so sehe ich wenigstens was von der Stadt. Mein Gott, wie sich die verändert hat.“ Berlin war nicht die Stadt, die sie von früher her kannte. Berlin war eine riesige Baustelle, aus der nur hin und wieder ein Wohnhaus herausplatzte, das zufälliger- oder ausnahmsweise nicht eingerüstet war. Unzählige Kräne wetteiferten mit eingeschüchterten Kirchtürmen, und phantasievolle Baufahrzeuge schienen angriffslustig alles überrollen zu wollen, was sich ihnen auf der Autobahn in den Weg stellte. Die sechsspurige Autobahn war eigens für sie abgesperrt worden. Für die PKWs reichte jeweils eine Spur in Richtung Norden, nach Hamburg, oder Süden, nach Leipzig. Vor, neben. und hinter dem neuen Mercedes-Taxi, mit dem der türkische Fahrer jetzt nach Tempelhof abbog, schoben sich ebenfalls meist neue und auffällig viele Luxuskarossen v vorbei. Wenn sie ihrem Orientierungssinn trauen konnte, dann war der Fahrer zu weit nach Osten gefahren. An Schöneberg mussten sie schon längst vorbeigefahren sein. Sie war sich nicht ganz sicher und sagte daher nichts. Als sich das Taxi dann allerdings durch den Stadtverkehr wieder nach Westen schob, wusste sie, dass sich der Fahrer entweder verfahren hatte oder er kurvte sie absichtlich durch die Gegend, weil er annahm, sie käme von auswärts, und er könne sie an der Nase herumführen. Sie ärgerte sich über ihn. Außerdem hatte sie den anatolischen Hochzeitsmarsch, den sie bereits zehnmal hatte anhören müssen, gründlich satt. Im kaltschnäuzigsten Berlinerisch, über das sie sich selbst wunderte, fuhr sie den türkischen Fahrer an, er solle endlich den Lärm abstellen und sie gefälligst auf direktem Weg zum Schöneberger Friedhof bringen. Wenn er nicht wüsste, wo dieser sei, würde sie sofort aussteigen und keinen Cent bezahlen. Sofort stellte der junge Mann das Radio aus und gab Gas, aus Angst davor, dass die alte Dame im Fond ansonsten aus dem Auto springen könnte. Binnen weniger Minuten waren sie am Ziel. Sie zahlte ihm den verabredeten Fahrpreis und lächelte ihn zum Abschied milde an: „Na, dat Jet also doch! Schön Tach noch!“