Die Welt, in der ich am 14. August 1889 das Licht der Welt erblickte, war nicht schön. Auch war sie keineswegs von meiner Ankunft begeistert. Obwohl Mutter in meinem Beisein nie darüber ein Wort verloren hatte, kann ich mir nicht vorstellen, dass es für sie eine besondere Freude gewesen ist, als sie mit knapp 50 Jahren, mich, ihr viertes Kind bekam. Andererseits weiß ich aber mit Sicherheit, dass sich mein Vater nicht nur nicht gefreut, sondern mich als „verdammten Balg“ beschimpfte, nachdem er mich eine Woche später zwar noch kein einziges Mal angesehen, dafür aber zufällig aus der Abstellkammer neben der Küche ein Schreien gehört hatte.
Mein Vater war ein Lebemann, Despot und Tyrann, der meiner Mutter über dreißig Jahre lang das Leben schwer gemacht hatte, so, dass sie davon krank wurde und starb, noch bevor ich vier Jahre alt war. Sie war die Tochter armer Bauersleute, die in der Nähe von Erfurt einen kleinen Hof hatten. Zu meinem Vater blickte sie auf wie zu einem höheren Wesen, wodurch ihre unterwürfige Stellung innerhalb der Ehe eine Selbstverständlichkeit war. Sie war die Magd, er war der Herr. In ihren Händen allein lag die Erziehung der Kinder und später, nachdem ihr Mann das ganze Geld versoffen und verhurt hatte, auch die Ernährung der Familie. Von früh bis in die späte Nacht arbeitete sie als Gehilfin in einer Kuchenbäckerei. Mit einer dreisten Selbstverständlichkeit verlangt mein Vater von ihr, dass sie ihm das hart erarbeitete Geld geben sollte. Zum Lohn dafür bekam sie Prügel, Misshandlung und so manchen Skandal. Viele Nächte wachte sie in banger Angst und Sorge um ihr eigenes Leben und das ihrer vier Kinder. Sie weinte unzählige Tränen und ertrug alle körperlichen und seelischen Schmerzen, die ihr von meinem Vater zugefügt wurden. Später, nachdem sie tot war, habe ich mir oft gewünscht, ihr all das zu vergelten, was sie uns Kindern in namenloser Liebe gegeben hatte. Wie oft wünschte ich mir, alle ihre geweinten Tränen von den geliebten, weichen Wangen zu küssen oder sie in Freudentränen zu verwandeln. Jetzt, da all die Erinnerungen früherer Zeiten in stiller Einsamkeit in meiner Seele auferstehen, frage ich mich, wie es möglich gewesen war, dass ich meine Mutter vergessen konnte! Wie war es möglich, dass ich die ewig währende Mutterliebe bezweifeln und verleugnen konnte. Jetzt ist mir endlich Kar, wie sich der Begriff Pflicht, Recht und Liebe verändert hat, in ihrem Leid und ihrem Schmerz war, ist und bleibt sie unerreicht groß.
Mein ältester Bruder war dreißig Jahre älter als ich und das genaue Ebenbild meines Vaters. Als er geboren wurde, stand dieser gerade als preußischer Soldat vor Paris. Möglicherweise war der kriegerische Einfluss des Vaters der Grund dafür, dass aus Heinz, so hieß mein Bruder, ebenfalls ein Soldat, Spieler und Trinker geworden ist. Auf mich hatte Heinz allerdings keinen Einfluss mehr, da er nur selten nach Hause kam. Später, nachdem ich mich auf die Wanderschaft begeben hatte, hörte ich dann überhaupt nichts mehr von ihm. Nach Heinz wurde meine Schwester Klara geboren. Ihren unbeugsamen Willen hatte sie von Vater, und die Kraft zu schwerer und ausdauernder Arbeit hatte sie von Mutter geerbt. Nachdem mich Klara großgezogen hatte, lernte sie einen Mann kennen, wegen dem sie von Vater von Zuhause verstoßen wurde. Sie heiratete den Mann, obwohl er ein Trinker war, und bekam sieben Kinder von ihm. Obwohl es mit ihm immer schlimmer wurde, hielt sie lange zu ihm, bis sie schließlich nicht mehr konnte und sich von ihm scheiden ließ. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war, dass sie einen Witwer mit mehreren Kindern geheiratet hatte. Mein zweiter Bruder war sieben Jahre älter als ich. Er glich in allen Wesenszügen meiner Mutter, weswegen ich mit ihm am längsten in Verbindung stand.
Mein Vater war ein schlechter Mensch, der keine Achtung vor dem Leben hatte. Auf alles machte er Jagd, was einen Rock trug. Und er schoss auf alles, was Flügel und vier Beine hatte. Meine Geschwister und mich behandelte er schlimmer als Dreck. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass es ihm nicht nur gefiel, sondern dass es ihm auch guttat, uns zu schlagen und zu misshandeln. Wir dienten ihm als Sündenböcke für das, was aus ihm geworden war, oder vielleicht besser, für das was nicht aus ihm geworden war. Hatte er sich doch stets zu etwas Höherem und Besseren berufen gefühlt. Der Grund dafür war seine halbadelige Herkunft. Sein Vater war ein Baron gewesen. Seine Mutter dagegen nur eine Magd, die sich dem blaublütigen Lustmolch entweder freiwillig oder auch lediglich aus Gehorsam hingegeben hatte. Das Kind der beiden erbte vor allem die Untugenden des Vaters, also den Standesdünkel, den Jähzorn und die Rohheit sowie die Liebe zu Wein, Weib und Spiel. Immerhin benahm sich der alte Baron anständiger als andere seines Standes und erkannte das Kind als seines an. Er gab ihm seinen Namen und kam für die Kosten einer besseren Schulbildung auf. Doch die junkerlichen Triebe in dem Jungen waren zu stark, um seinen Lerneifer zu entfachen. Er verbrachte seine Zeit lieber im Wirtshaus und hatte hinter den jungen Mädchen des Dorfes her, statt zu studieren. Als die Ermahnungen und Drohungen des alten Barons nicht fruchteten, sagte sich dieser von dem jungen Mann los, kaufte ihm für dreihundert Taler den herrschaftlichen Namen ab und jagte ihn zum Teufel. Darauf meldete sich mein Vater freiwillig in die preußische Armee und marschierte mit dieser als Feldgendarm im Krieg zwischen Preußen und Österreich. Weil ihm das Leben als Soldat gefiel, diente er nach dem Krieg weiter und kämpfte ein paar Jahre später als Ordonanzreiter gegen Frankreich. Nachdem er seinen Abschied von der Armee genommen hatte, wurde er als Telegrafist angestellt. Doch nicht lange, da ihn sein unsteter Charakter dazu trieb, sich selbst zu versuchen. Er wurde Agent, Förster, Güterspekulant, Gastwirt, Coiffeur und Geflügelhändler, ohne auf Dauer irgendwo Fuß zu fassen. Das oberflächliche Soldatenleben und zwei Kriege hatten seine ungünstigen Neigungen mächtig gefördert. Sein Standesdünkel war durch militärische Chargen und Orden noch weiter gesteigert worden. Obwohl ihm der Adelstitel und das entsprechende Vermögen fehlten, fühlte er sich Dank seiner Einbildung als Mitglied der herrschenden, besseren Klasse, als schneidiger, preußischer Junker, der für das gewöhnliche Volk nur Verachtung übrig hatte…