Versuch einer Novelle: „Brotrinde“

Als ich auf der Straße vor unserem Haus das Brot entdeckte, erkannte ich es sofort wieder. Ich hatte es heute morgen selbst hergerichtet. Zwei Scheiben teuren Vollkornbrotes aus dem Bioladen hatte ich liebevoll mit Butter bestrichen und mit der Lieblingssalami meines Sohnes belegt. Als Peter, mein neunjähriger Sohn, dann quengelte, ich solle vom Brot den Rand abschneiden, weil ihm der zu hart zum Kauen wäre, meinte ich ärgerlich, dass die Rinde genauso zum Pausenbrot gehöre wie die Wurst. Daraufhin steckte Peter das Brotpaket maulend in seine Schultasche und verließ das Haus. Die kleine Auseinandersetzung mit meinem Sohn war allerdings schnell vergessen, weil jede Menge Hausarbeit auf mich wartete. Bis zu dem Augenblick, in dem ich das Pausenbrot im Dreck gefunden habe. Ich hob es auf und nahm es mit ins Haus. Es in die Tonne zu werfen, brachte ich nicht übers Herz. Ich war traurig. Nicht nur wegen der sinnlosen Verschwendung des Brotes, sondern weil es sich so anfühlte, als hätte mein Sohn auch meine Mutterliebe mit in den Dreck geworfen. Natürlich wehrte ich mich gegen solch negative Gedanken. Auch konnte ich nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich keine Lust mehr hatte, an diesem Vormittag noch einen Finger krumm zu machen. Ich beschloss, mir einen Tag zu gönnen, weder zu putzen noch zu kochen, sondern das zu tun, worauf ich gerade Lust hatte. Gegen zwei Uhr kam Peter aus der Schule. Ich hörte, wie er seinen Rucksack in die Ecke des Flures warf und in die Küche eilte. Er musste sehr hungrig sein. Obwohl ich ihn nicht sah, spürte ich, dass er enttäuscht feststellte, dass dort weder ich war noch irgend etwas Essbares auf dem Herd oder auf dem Küchentisch stand. Er schickte ein unsicheres, aber dafür umso lauteres „Mama?“ durch die Wohnung. Ich antwortete nicht. Dann rannte er ins Wohnzimmer und sah mich auf dem Sofa liegen, wie ich dort ein Buch las. Peter war nicht nur erstaunt, sondern er erschrak förmlich darüber, dass seine Mutter um diese Uhrzeit einfach so herumlag und nicht in der Küche für ihn kochte oder ihm das Essen servierte. „Hallo, wie war’s in der Schule?“ fragte ich ihn lächelnd. „Gut. Mama, ich hab Hunger. Warum hast du nichts gekocht und liegst einfach so herum?“ Peter baute sich vor mir auf. „Heute habe ich keine Lust zu kochen. Im Übrigen habe ich dir schon etwas auf den Tisch gestellt. Wenn du Hunger hast, dann wirst du das bestimmt aufessen.“ In Peters Augen tauchte ein hoffnungsvoller Schimmer auf, als er ins Esszimmer zurückging. Lange Zeit hörte ich keinen Ton von ihm Ich musste mich dazu zwingen, nicht aufzustehen und nach ihm zu sehen. Nur zu gerne hätte ich sein Gesicht gesehen. Andererseits kannte ich meinen Sohn. Bestimmt war er in die Speisekammer geschlichen, um sich von dort etwas Essbares zu holen. Bei dem Gedanken, dass er sich mit Süßigkeiten vollstopfte, konnte ich nicht mehr länger liegenbleiben. Was sollte ich machen? Ihn bestrafen und übers Knie legen, ihm Stubenarrest geben? Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass solche Erziehungsmaßnahmen im Grunde nichts bringen. Vielleicht Furcht vor der gewalttätigen Mutterhand, keinesfalls jedoch Respekt vor der Mutter selbst. Auch ist das nicht meine Art, auf ein Problem zu reagieren. Das beste Mittel, Herz und Verstand meines Sohnes zu erreichen, würde eine Geschichte sein. Früher erzählte ich ihm oft solche, wenn wir mit dem Auto oder mit der Bahn lange Strecken fuhren. Er liebte meine Geschichten, die mir just in dem Moment einfielen, in dem ich sie erzählte. Auch, wenn ich sie nur ein einziges Mal erzählte, prägte er sich meine Worte ein. Noch lange, nachdem ich ihm ein Märchen über verwunschene Züge oder Riesenbaufahrzeuge erzählt hatte, konnte er sie genau wiedergeben.

Wie ich richtig vermutet habe, hat er das Esszimmer auf Zehenspitzen verlassen, und das Pausenbrot liegt unberührt auf dem Teller. Wahrscheinlich ist er in seinem Zimmer. Ich klopfe an die Türe und höre, wie es dahinter raschelt. Aha! Jetzt versteckt er wohl gerade das Schokoladenpapier unter der Matratze oder hinter dem Kleiderschrank. Es wird wieder still. Statt die Türklinke zu drücken und festzustellen, dass er die Türe abgesperrt hat und nicht willens ist, aufzuschließen und mich reinzulassen, setze ich mich auf den Boden vor seinem Zimmer und lehne mich gegen die Türe.

Wie lange es wohl her ist, seit ich meinem Sohn die letzte Geschichte erzählt habe? Heute Morgen, nachdem ich das Brot gefunden habe, fiel mir eine wahre Geschichte ein. Sie handelt von meinem Vater, als der ein Junge in Peters Alter war.

Der zweite Weltkrieg hatte unsägliches Leid und Schmerz über die Menschen gebracht. Als er endlich zu Ende war und wieder Frieden herrschte, war die Not im Land weiterhin sehr groß. Viele Häuser waren von Bomben zerstört worden, und die meisten Felder lagen brach und öde da, so dass nichts geerntet werden konnte. Was wiederum bedeutete, dass es nichts oder kaum etwas zu essen gab. Die Menschen mussten hungern, und nicht wenige von ihnen wurden krank und starben an Tuberkulose oder Typus. Die größte Not aber litten die Kinder. Viele von ihnen hatten durch den Krieg ihren Vater verloren. Auch mein Vater, der damals neunjährige Hans. Weinend hatte ihm seine Mutter gesagt, dass sein Vater nicht mehr wiederkommen würde und dass sie beide nun ganz fest zusammenhalten müssten. Nachdem er und seine Mutter in letzter Minute vor den Russen geflohen und tagelang frierend und hungernd in Richtung Westen marschiert waren, fanden sie in einer armseligen Hütte in den Bergen des Bayerischen Waldes Unterschlupf. Die Mutter von Hans war eine fleißige und geschickte Frau, die es verstand, aus Resten und sogar Abfällen etwas Nützliches oder Schönes zu machen. Es dauerte nicht lange, bis sie in einem Dorf, das eine Stunde von ihrer abgelegenen Hütte entfernt lag, Arbeit als Magd auf einem Bauernhof fand. Pünktlich um vier Uhr früh machte sie sich mit Hans dorthin auf den Weg. Während sie die Kühe melkte und sich danach um den Hof und den Haushalt kümmerte, fütterte Hans die Schweine und Hühner und ging dem Bauern zur Hand. Der Lohn für ihre Arbeit war gering, so dass sie sich kaum das Nötigste leisten konnten. Im Sommer wie im Winter trugen sie dieselbe Kleidung und dieselben Holzpantinen, mit denen sie selbst bei Eiseskälte durch den tiefen Schnee stapften. Dagegen ging es den Bauersleuten recht gut. Sie profitierten von ihren billigen und willigen Arbeitskräften und nützten sie aus. Die Bäuerin, eine herrische und faule Frau, und der Bauer, ein launischer Geizhals, wussten um die Not von Hans und seiner Mutter. Sie waren egoistisch und hartherzig und rechtfertigten ihre Unmenschlichkeit damit, dass sie die „verdammten Flüchtlinge aus dem Osten“ für eine Plage hielten. Die beiden hatte eine Tochter, die zwei Jahre älter als Hans war. Sie hieß Franziska und war nicht nur äußerlich ein Abbild ihrer Mutter. Sie war genauso stämmig und hatte einen kurzen, dicken Hals. Sie trug ihr langes, strohblondes Haar als Kranz um ihren Kopf geflochten; sie war herrisch und faul. Den ganzen Tag über war sie entweder mit ihrer Eitelkeit beschäftigt oder sie schlich den Knechten und Mägden hinterher, um sie zu belauschen und zu beobachten. Wenn sie ein kritisches Wort über ihre Eltern hörte, lief sie geschwind zur Mutter, um dieser alles in gehässiger und übertriebener Weise zu berichten. So kam es, dass sich keiner der Arbeiter mehr getraute, ein offenes Wort zu sagen. Immer musste man damit rechnen, von Franziska ausspioniert zu werden. Hans und seine Mutter erledigten ihre harte Arbeit sorgfältig und ohne Murren, obwohl der Hunger oft groß war. Die Mittagssuppe, die hauptsächlich aus Wasser und ein paar eingeschnittenen Kartoffeln bestand, wurde ihnen teuer vom Lohn abgezogen. Deshalb beschloss die Mutter, auf die Suppe zu verzichten und tagsüber lieber zu hungern. Von dem ersparten Geld wollte sie für Hans und sich lieber ein Stück Brot kaufen und es auf dem einstündigen Nachhauseweg verzehren. Bei den Bauersleuten selbst kamen jeden Tag Fleisch und Klöße auf den Mittagstisch, und zum Abendbrot gab es Wurst und Käse, dazu immer frisches Brot, was jedoch meist verschmäht und am anderen Tag an die Hühner und Schweine verfüttert wurde. Nun war es die Aufgabe von Hans, den Schweineeimer aus der Küche zu holen und den Inhalt in die Tröge der Tiere zu leeren. Jeden Tag musste er ansehen, wie sich die wohlgenährten Schweine nur um die besten Stücke rauften und den Rest oftmals verachteten und im Trog liegen ließen. An einem eisigen Wintertag war sein Hunger so groß, dass ihm davon schwindelig war. Um nicht ohnmächtig zu werden, musste er sich einen Augenblick auf den Boden im Schweinestall setzen und ausruhen, nachdem er die Tiere gefüttert hatte. Benommen sah er auf den Rest, der im Trog lag. Da leuchtete vor ihm ein langes Stück knusprig braune Brotrinde auf, das die Schweine übrig gelassen, nachdem sie das weiche Brotinnere davon abgeknabbert hatten. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Wie lange war es her, dass er so ein Stück Brot im Mund gehabt hatte? Er war hin- und hergerissen, wusste er, dass es strengstens verboten war, etwas vom Tierfutter zu nehmen. Für Diebstahl gab es erst Schläge und dann musste man den Hof verlassen. Hans sah sich um, ob noch jemand im Schweinestall war, doch entdeckte er niemanden. Er rutschte näher an den Trog heran und streckte schnell seine Hand nach der Brotrinde aus und griff zu. Geschwind versteckte er sie unter seiner zerrissenen Jacke und stand auf. Als er durch die Stalltüre ging, verstellte ihm Franziska mit einem befriedigten, schadenfrohen Lächeln den Weg. „Gib her, du Dieb!“ Hans wurde kreidebleich, es machte keinen Sinn, zu leugnen oder sich zu erklären. Stumm zog er die Brotrinde hervor und legte sie in Franziskas fordernde Hand. Gierig, wie ein Geier, packte diese zu, drehte sich um und rannte sofort ins Haus. Hans wusste, was auf ihn und seine Mutter zukommen würde. Er blieb mit hängenden Schultern an Ort und Stelle stehen, um auf seine Strafe zu warten. Es dauerte nicht lange, bis der Bauer mit einem dicken Knüppel, mit dem die Kühe auf den Viehtransporter getrieben wurden, drohend auf ihn zukam. Plötzlich tauchte aus dem Nichts seine Mutter auf und baute sich schützend vor Hans auf. Wütend schrie sie den Bauern an: „Mein Kind rührst du nicht an – strafe mich! Du bist hier der Herr, doch ich weiß, dass ein mächtigerer Herr dich früher oder später zur Rechenschaft ziehen wird!“ Der Bauer, von dem alle auf dem Hof wussten, dass er abergläubisch war, ließ erschrocken den Stock fallen. In dem Ausruf von Hans‘ Mutter lag Bedrohliches, das sich wie ein Fluch anhörte. Der Bauer bekam es mit der Angst zu tun vor dieser mutigen Frau, die zwar blass, mit weit aufgerissenen Augen, doch stolz und aufrecht vor ihm stand. Die Hand und den Stock gegen sie zu erheben, wagte er nicht mehr. Auch konnte er ihr nichts erwidern. Ohne sie vom Hof zu jagen, kehrte er ins Haus und ließ die mutige Mutter und ihren ungläubig blinzelnden Sohn zurück. Still drückte sich Hans an seine Mutter, als wollte er sie damit fragen, was er jetzt tun sollte. Sie streichelte ihm über seine braunen Locken und meinte nur: „An die Arbeit, mein Großer!“

Von diesem Tage an wartete Hans nicht mehr darauf, dass die Schweine ihm etwas übrigließen, sondern er fischte sich bereits in der Küche die besten Abfallstücke aus dem Eimer. Allerdings immer nur die knusprig braunen Brotrinden. Die waren für ihn zum Symbol für Liebe und Mut geworden.

Ich spüre Tränen auf meinen Wagen und höre, wie Peter seine Zimmertüre öffnet. Er schaut mich mit traurigen Augen an und stürzt sich in meine ausgebreiteten Arme. „Mama, es tut mir so leid, dass ich das Brot weggeworfen habe.“ – „Ich weiß, mein Großer. Als mein Vater mir die Geschichte erzählte, war ich genauso alt wie er und du. Genau wie du wollte ich keine Brotrinde essen. Doch als mich Oma dafür bestrafen wollte, setzte mich Opa auf seinen Schoß und erzählte mir seine Geschichte. Und weißt du was? – Seitdem esse ich am liebsten Brotrinde!“