Sie hatte verschlafen und würde um mindestens eine Stunde zu spät kommen. Ihr war zum Heulen zumute, als sie von zu Hause losfuhr. Der kühle und nasse Herbstmorgen war deprimierend. Das Leben schien ihr verpfuscht und chaotisch wie ein heruntergekommener Schrottplatz. Geistesabwesend raste sie mit ihrem Wagen über die Landstraße Richtung Autobahn. Wenigstens musste sie nicht in die Firma, sondern zu einem Medienkongress. Um den Berufsverkehr zu entkommen, parkte sie am Stadtrand und fuhr mit der UBahn in die City weiter. Äußerlich sah ihr niemand an, wie dumm und hässlich sie sich fühlte. Sie war eine Schönheit. Ihre Figur war schlank und sportlich, ihr Gesicht, das wegen der großen, dunklen Augen einen exotischen Ausdruck hatte, von langen Locken eingerahmt. Das gekonnt aufgelegte Makeup und der dunkelblaue Hosenanzug unterstrichen ihre Erscheinung. Eigentlich sah sie zum Verlieben aus. Danach stand ihr nicht der Sinn. Als sie von der UBahnstation zur Bushaltestelle eilte, wo der Bus zum ParkHilton hielt, zählte sie die Gehsteigplatten. Niedergeschlagen wartete sie auf den Bus. Sie dachte an ihren Chef, mit dem sie Ärger hatte, und an die Arbeit, die ihr keine Freude machte. Sie hatte Schwierigkeiten mit der Arroganz und feigen Verlogenheit, die bei manchen Fernsehsendern zur Unternehmenskultur gehörten. Und Schwierigkeiten mit den Fernsehleuten bedeuteten Ärger mit dem Chef. So einfach war das. Auf dem Kongress würden ihr viele aus der Branche begegnen. Sie würde einfach nur dasitzen und sich mit einem halben Ohr die schlauen Zukunftsprognosen der gewichtigen Redner, der sogenannten „Medienelefanten“ anhören. Sie würde das Mittagsbuffet plündern und dann wieder nach Hause fahren. Sie würde mit ihrem Hund spazierengehen. Überraschend hellten sich die Gehsteigplatten vor ihr auf. Sie hob den Kopf und sah, wie die Sonne durch die Wolken blinzelte. Da musste sie lachen.
An diesem Morgen waren ihm alle Frauen verhasst. Wegen ihnen hatte er verschlafen. Am schlimmsten war seine geschiedene Frau. Ihr stünde mehr Geld zu. Ihre Karriere hätte sie für ihn geopfert. Dass sie keine Kinder hatten, wäre nicht ihre Schuld gewesen sondern seine. Sie poche nur auf ihr gutes Recht. Dass sie ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hatte, sei dabei völlig unerheblich. Das Telefonat mit seiner Exfrau am Abend vorher hatte ihm den Schlaf geraubt. Als der Wecker läutete, träumte er, es wäre die Totenglocke des Friedhofs, auf dem seine Exfrau beerdigt sei. Enttäuscht wachte er eine Stunde später auf. Der Ärger hatte sich ihm auf den Magen geschlagen. Ohne Frühstück eilte er zur Bushaltestelle. Er wettete gegen sich selbst. Seine Exfrau würde nicht mehr Geld bekommen, wenn die Summe der Gehsteigplatten eine gerade war. „843, 844…?!“ Er blickte plötzlich auf. „Warum lacht die? Über mich?… Verdammt, bei welcher Zahl war ich? … Blöde Kuh! Wegen dir weiß ich jetzt nicht mehr, ob meine Exfrau mehr Geld bekommt!“ Am liebsten hätte er die lachende Frau an der Haltestelle erwürgt. Er schoss giftige Blicke auf sie ab. Doch die sah ihn nicht einmal an, schien ihn gar nicht bemerkt zu haben. Der Bus zum ParkHilton kam. Er wartete, ließ die anderen Fahrgäste einsteigen. „Ob die auch mitfährt?“ Als sie dicht an ihm vorbeiging und den Bus bestieg, wehte ihm ein dezenter Duft um die Nase. „Ha! Teures Parfum. Hilft auch nichts bei dir! Mir stinkt es!“ Sie stand im hinteren Teil des Busses am Fenster. Das abrupte Abbremsen des Busses holte sie mit einem Schlag in die Wirklichkeit. „Mensch, wir fahren ja schon durch den Englischen Garten. Wie schön das bunte Laub leuchtet. Richtig malerisch.“ Aus dem tristen Herbstmorgen schien ein herrlicher Tag zu werden. Die Welt kam ihr mit einem Mal nicht mehr so grau vor. Ihre gewohnt gute Laune gewann die Oberhand. Sie schaute sich im Bus um. Ihr Blick blieb an einem Mann hängen, der sie schon die ganze Zeit unverfroren abschätzig und frech gemustert hatte. „Blödmann! Glotzt mich an, als hätte ich ihm die Wurst vom Brot geklaut. Schnösel!“ Statt seinen Blick zu erwidern, drehte sie ihm den Rücken zu. Einen anderen Menschen ignorieren, so zu tun, als bemerke man ihn nicht, war eleganter und dazu noch wirkungsvoller, als ihm die Zunge oder den Mittelfinger zu zeigen. Wahrscheinlich hätte sie an einem anderen Tag herumgerätselt, was sie diesem Kerl angetan hatte, doch diesmal verspürte sie keine Lust dazu. „Du kannst mich mal!“ Sie waren am ParkHilton angelangt. Er wartete, bis sie ausgestiegen war, und folgte ihr. „Arrogante Kuh! Meint wohl, dass die Männer vor ihr auf die Knie fallen. – Wo geht sie jetzt hin? – Der werde ich es heimzahlen…!“ Er wettete wieder mit sich. Bestimmt gehörte sie zum Hotelpersonal. Als sie auf den Haupteingang zuhielt, schlug sein Herz schneller. Die Veranstaltung hatte längst begonnen. Vorsichtig öffnete sie die Türe zum großen Kongresssaal. Bis auf das grell beleuchtete Podium, auf dem die Meinungsmacher der deutschen Nation selbstgefällig über die „Bedeutung der Medien im dritten Jahrtausend“ philosophierten, herrschte Dunkelheit im Raum. Ringsherum saßen in langen, aufsteigenden Reihen konzentriert dösende Zuhörer. Während sie nach einem freien Platz Ausschau hielt, wurde sie von einigen Männern gemustert. Sie wären gerne neben ihr gesessen. „Verflixt noch mal, was soll ich jetzt tun? Vorne sind noch Plätze frei, doch komme ich dort nicht unbemerkt hin. Doch was solls…“
Er war ihr in den Saal gefolgt und hatte ihre kurze Unsicherheit, mit der sie auf die Blicke der Männer reagiert hatte, bemerkt. Obwohl er sie hasste, sein Verstand sie als arrogant und unsympathisch verurteilt hatte, suchte er ihre Nähe. Er musste. Sie bemerkte ihn nicht, als er leise von hinten an sie herantrat. Ihm wurde schwindelig, als er wieder ihren Duft wahrnahm. „Was soll ich jetzt bloß machen?… Ich muss sie ansprechen… Aber jetzt hast du die Gelegenheit, es ihr heimzuzahlen… Wie gut sie riecht…“ Er stand jetzt dicht bei ihr. Am liebsten hätte er sie umarmt, ihre Locken berührt. Doch nein! Er hatte die Nase voll von Frauen. Sie verdiente eine Abreibung. Sofort! Er wollte sie verletzen und beleidigen. Sie schickte sich an, wegzugehen. Sein Kopf war leer. Jetzt musste er etwas zu ihr sagen. Was er dann sagte, überraschte ihn selbst. Hämisch raunte er ihr ins Ohr: „Das kommt davon, wenn man morgens nicht aus den Federn kommt!“ Sie drehte sich um und schaute in das Gesicht des Mannes aus dem Bus. Er grinste sie herausfordernd an. Statt beleidigt oder schlagfertig zu kontern, sagte sie einfach nur: „Ja“. Sie drehte ihm wieder den Rücken zu. Das zweite Mal. Sie visierte die freien Plätze wieder an. Er war fassungslos. Hatte die einfach nur „Ja“ gesagt und ihm wieder den Rücken zugedreht. Sie wollte gehen. Das durfte er nicht zulassen. In ihm stieg ein panisches Gefühl hoch. Er wollte, dass sie bei ihm blieb. „Gott sei Dank“, denn er hatte hinter sich zwei freie Plätze entdeckt. „Wollen wir uns dort hinten zusammen hinsetzen?“ Erschrocken drehte sie sich wieder nach ihrem Verfolger um. „Ist der immer noch da? Was will der bloß von mir?“ Sie schaute ihm in die Augen und bemerkte seinen völlig veränderten Blick, der jetzt weich und suchend, ja, flehend war. Schmerzhafte Erfahrungen aus der Vergangenheit hatten sie vorsichtig und klüger werden lassen. „Nein!“