Sieben Jahre sind vergangen, seit Eva ihrem Walther auf dem Blumenhügel den Siegerkranz auf die Stirn gedrückt hat. Er war natürlich stolz darauf, sich fortan Meistersinger nennen zu dürfen. Mit seinem improvisierten Gesang, der sich bei Evas lieblichem Anblick aus dem Herzen gedrängt hatte, von Blüten und Düften, bei denen im rosigen Schein die Luft anschwillt, ließ er die anderen Sänger neben sich recht blass aussehen. Zu Beginn der Singerei war er sich allerdings ziemlich albern vorgekommen. Aber was tut man(n) nicht alles, um eine Frau zu erobern. Besonders dann, wenn es sich um eine so liebreizende, nicht ganz unwillige und vielbegehrte Trophäe handelt. Nicht allein die Schmetterlinge im Bauch hatten ihn zu seiner Gesangseinlage bewogen, sondern seine Ehre als Edelmann war von dem doch recht überheblichen Nürnberger Handwerkervolk herausgefordert worden. Klugerweise, denn Walther war ein heller Kopf, behielt er seine Meinung für sich.
Nach der Rede von Hans Sachs, in der dieser dem Ritter Walther sein hohes Lob aussprach, weil er sich als singender Dichter bewiesen hatte, nahmen alle an, dass die glückliche Romanze zwischen Eva, dem Hauptgewinn der Nürnberger Sangesmeisterschaft, und Walther, dem nicht nur heiß- sondern auch noch blaublütigen Quereinsteiger, bis in alle Ewigkeiten weitergehen würde.
Weit gefehlt! Der spannendere Teil begann gleich danach. Eva hatte es sich in den Kopf gesetzt, dort zu heiraten, wo sie sich in ihren Traummann in der blitzenden Ritterrüstung verliebt hatte. Dagegen hatte Walther nichts einzuwenden. Ihm war alles egal, Hauptsache er durfte nach dem nervigen Gesangesgetändel endlich sein Kopfkissen mit Eva teilen. Für die Hochzeitsgäste wäre es hingegen günstiger gewesen, wenn die Trauung im geräumigeren Dom stattgefunden hätte. Die zweistündige Hochzeitsmesse im engen Kleiderputz und dazu im Stehen bei schwülen dreißig Grad durchzustehen, war nicht gerade erholsam. Doch Eva war die Hauptperson. Sie bestimmte, wann wer wohin mit welchen Geschenken zu ihrer Hochzeit kommen durfte und antreten musste. Unter teils begeisterten, teils müden Vivat- und Hochrufen der Spalier stehenden Handwerker und schräg dreinblickenden Welscher Edelleute war das frisch getraute Paar durch die hölzerne Pforte der heiligen Katharina hinaus in die Welt des Alltags getreten.
Indes war Walthers Vater, der für seinen Sohn eine standesgemäße und vor allen Dingen lukrativere Partie im Auge gehabt hatte, von dem Nürnberger Abenteuer förmlich überrumpelt worden. Wütend ließ er Walther ausrichten, dass er sich mit dem Weibsbild aus Nürnberg weder bei ihm noch auf seiner Burg blicken lassen sollte. Große Schande habe er über sein Geschlecht gebracht. In Zukunft könne er mit seiner Handwerksbrut leben, wo der Pfeffer wächst. Walther hatte zwar mit Schwierigkeiten gerechnet, doch dieser väterliche Verweis ging ihm dann doch zu weit. Wie schon gesagt, besaß Walther einen schlauen Kopf und ein mutiges Herz, trat trotz Hausverbot vor das grollende Familienoberhaupt und legte gekonnt eine bewundernswert kleinlaute Reumütigkeit an den Tag. Mit rhetorischer Brillanz malte Walther seine Sicht des Nürnberger Abenteuers aus und erklärte, warum er sich auf ein solches überhaupt eingelassen hatte. Seine Sangesleistung in Nürnberg sei nicht nur beim gemeinen Volk gut angekommen, sondern auch die hochnäsigen Handwerker würden ihm nun zu Füßen liegen. Ein Fürst, der als „Meistersinger“ erkannt würde, sei nicht nur „ein Dichter, der aus eigenem Fleiße zu Wort‘ und Reimen, die er erfände, aus Tönen auch fügt eine neue Weise“; nein, ein solcher Fürst habe seine Majestät nicht nur von Gottes Gnaden, sondern diese würde ihm dadurch verdienterweise von seinem Volk verliehen. Walthers Rede gefiel dem Vater zwar, doch seinen väterlichen Segen gab er ihm nicht. Weil er seinen Sohn aber liebte und nicht wollte, dass dieser als Habenichts verhungerte, schenkte er ihm ein kleines Gut, das zwei Tagesreisen entfernt am Rande seines Fürstentums lag.
Fortan lebten Walther und Eva mit ihren sechs Buben dort. Als die Geburt des siebten Kindes bevorstand, betete Eva inständig, dass es ein Mädchen würde; denn Hilfe konnte sie gut gebrauchen. Hätte sie vor sieben Jahren auf dem Blumenhügel doch geahnt, was ihr als Ehefrau ihres meistersingenden Traummannes alles bevorstehen würde. Das Leben an der Seite von Walther, der zwar immer noch adelig, dafür aber gleichsam enterbt worden war, und der keinen Nagel gerade in die Wand schlagen konnte, ohne sich die Finger blutig zu klopfen, war nicht gerade ein Paradies, von dem er einstmals gesungen hatte. Zu gebrauchen war er nur, wenn es darum ging, schöne Reden zu schwingen oder seinen Söhnen Geschichten von Rittern und Drachen zu erzählen. Von früh bis spät war Eva auf den Beinen, die von ziemlich dicken Krampfadern und Besenreißern verunziert worden waren – nach sieben Schwangerschaften war das kein Wunder -, um Haus und Hof zu bestellen und zudem sieben hungrige Männer zu bekochen. Seit Magdalenens Tod vor zwei Jahren hatte sie keine Hilfe mehr an ihrer Seite, denn Bedienstete konnten sie sich nicht leisten. Diese ganz und gar nicht standesgemäße Lebensweise fand auch Walther nicht angenehm. Aber er meckerte wenigstens nicht den ganzen Tag darüber. Es war bestimmt nicht alleine seine Schuld, dass sie in einem Bauernkaff am Rande der Welt ihr Leben fristen mussten. Insgeheim hatte er sich während der vergangenen Jahre schon oft darüber geärgert und sich selbst einen Narren gescholten, wie er auf die Idee kommen konnte, damals das vermaledeite Meistersingerspektakel mitzumachen. Ohne Singerei hätte er keine Eva und damit kein keifendes und nörgelndes Eheweib bekommen. Ihren Liebreiz und ihre Reinheit hatte sie gleich nach der Hochzeitsnacht vor ihm in Sicherheit gebracht. Reich, zufrieden und glücklich könnte er als Fürst auf der Burg seines Vaters residieren und majestätisch über sein Land, an dessen äußerem Rand er jetzt mittellos wohnen musste, regieren. Stattdessen wurde er tagaus und tagein von einer ihm völlig fremd gewordenen Eva, aus der eine hornhäutige Bäuerin und feilschende Gemüsehändlerin geworden war, herumkommandiert. Ist es Zufall oder der Wille des Himmels? Just an dem Tag, an dem Eva ihr siebentes Kind, ein Mädchen, zur Welt bringt, muss sie auf die Anwesenheit und Geburtshilfe ihres Gatten verzichten. Ein fürstlicher Bote hatte Walther die Nachricht überbracht, dass sein Vater im Sterben liege und seinen Sohn ein letztes Mal zu sehen wünsche.
Vergessen sind die Jahre der Verbannung und des vermeintlichen Unglücks, in denen er seinen Vater als hartherziges Scheusal verflucht hat. In seinem Herzen spürt Walther nichts als Liebe für diesen Menschen, der ihn jetzt lange mit einem sonderbar zärlich stolzen Blick betrachtet. Walther ist unsicher, weil er diesen Gesichtsausdruck bei seinem Vater weder kennt noch zu deuten vermag. Mit flüsternder, atemloser Stimme richtet der Vater seine letzten Worte an Walther: „Du sollst wissen, dass ich diese Welt als stolzer Vater verlassen werde. Ich weiß Bescheid über dich und Eva. Ich kenne die Namen deiner Buben und ich weiß, dass Eva in diesen Tagen niederkommt. Verzeih mir, meine Junge, dass ich nicht früher nach dir geschickt habe. Meine Hartnäckigkeit quält mich selbst am meisten. Du aber kannst stolz auf dich sein, weil du Ehre und Mut bewiesen hast, indem du dich einst für die Liebe entschieden hast. Obwohl du wusstest, dass ein schweres und hartes Leben auf dich zukommen würde, bist du deinen eigenen Weg gegangen. Ein drittes Mal hast du dich damit geadelt: Mit deiner Hände Arbeit und Fleiß. Jetzt bist du ein wahrer deutscher Meister, der die guten Geister bannen wird, damit in deinem Land, das ich dir anvertraue, künftig mit dir das Glück und der Segen Gottes herrschen werden. Hol deine Eva und deine Kinder nun Heim ins Paradies, damit ich meine Augen in Frieden schließen kann.“