Der Morgen ist kalt. Am See, der direkt neben meinem Haus liegt, sitze ich auf einer Bank, die aus Eichenholz einfach gebaut ist. Noch nie bin ich auf dieser Bank gesessen. Hab mir dafür nie die Zeit genommen, mich darauf niederzulassen. Jetzt sitze ich auf ihr.
Mein Blick weitet sich über den See, der mir wie eine frierende Schlange zu meinen Füßen liegt. Er soll sehr tief sein, sagen die Leute hier, und sehr alt. Riesengroße Fische sollen auf seinem unerforschten Grund leben. Schneeweiß sollen sie sein, weil sie wegen der in der Tiefe herrschenden Lichtlosigkeit keine Pigmente haben. Dort, tief unten, wo immerwährende Dunkelheit herrscht, soll es die lichtesten Geschöpfe geben.
Eine Nebelglocke hat sich über die Stadt gestülpt. Darüber gähnt verschlafen die Berliner Sonne. Doch ist der graue Himmel über dem See nicht düster, sondern sein helles Grau verspricht Helligkeit, eine Art von Leichtigkeit. Er spiegelt sich milchig weiß auf der Wasseroberfläche des Sees. Dort, wo der Wald am Ufer der Krummen Lanke Schatten auf die Wasseroberfläche wirft, ist es dunkel, aber nicht schwarz, sondern grau. Das Laub der Bäume, die das geduldige Seeufer säumen, ist längst abgefallen. Es bedeckt den weichen, moosigen Waldboden als raschelnder Teppich. Seine Farbe ist ein braunes, erdiges Mosaik, das sich aus den verlebten Blättern von starken Eichen, eitler Buchen und naiver Birken zusammensetzt. Mit neugieriger Dreistigkeit haben sich auffällig viele Birken zu weit ans Wasser herangewagt, so dass ihre Wurzeln nicht mehr genügend Halt in der Erde gefunden haben und ins Wasser gestürzt sind. Als weiße Gerippe liegen sie zwischen den Elementen störend am Ufer. Am gegenüberliegenden Ufer erkenne ich eine Gruppe kleiner Bäume, die noch an ihrem gelben und grünen Laub festhalten. Ich frage mich, wann sie den Kampf gegen das diesjährige Sterben verlieren werden. Vielleicht sind sie morgen schon kahl, vielleicht aber erst nächste Woche?
Die Sonne ist wach und drückt ihre Strahlen durch die Wolken und hellt den Himmel über mir Augenblick für Augenblick mehr auf. Einen Atemzug später steht sie vor mir, blendet mich beinahe. Zwei Finger breit über dem gezackten Rand der Fährenkronen. Mit anderen Bäumen, Fichten und Kiefern, stehen die Föhren dezent in der zweiten Reihe hinter Eichen, Buchen und Birken.
Auf dem See schwimmen Enten in kleinen Gruppen umher. Sie halten das Wasser in Bewegung, vermitteln ein Gefühl von Lebendigkeit und Trost. Ein Erpel wackelt mit dem Hinterteil und hebt seine Flügel aus dem Wasser, um sich zu strecken. Immer wieder tauchen Enten plötzlich unter, um am Ufergrund nach etwas Essbarem zu suchen. Einige kehren stolz mit einer Muschel im Schnabel an die Oberfläche zurück. Ihre unvermutete Rückkehr aus der Tiefe hinterlässt auf der Wasseroberfläche konzentrische Kreise, die sich in größer werdenden Wellen im See verflachen, um sich dann wieder zur Ruhe zu begeben. Eine andere Ente fliegt verärgert auf, verlässt ihre kleine Gruppe, um ein paar Meter weiter schnatternd wieder im Wasser zu landen. Rasch schwimmende Enten ziehen im Wasser eine schimmernde Bugwelle hinter sich her, die wie ein wachsendes „V“ aussieht. Ein schwarz gefiederter Kranich segelt über die Mitte des Sees, um nach einem Landeplatz zu suchen.
Weit über mir oberhalb der Wolkendecke segeln lärmend Düsenflugzeuge dahin. Auch sie suchen einen Platz zum Landen. Mit einem Mal fällt mir auf, dass die scheinbar friedliche Atmosphäre am See mit Lärm vergiftet ist. Ständig dröhnen Flugzeuge über meinen Kopf hinweg.
Eine Frau, die mit ihren Hunden nicht zurecht kommt, nervt mit schrillem Gepfeife nicht nur mich. Ihre beiden Windspiele ziehen es vor, das Weite zu suchen und im Wald zu verschwinden. Pausenlos höre ich Jogger vorbeirascheln. Einzeln oder in kleinen Gruppen schnattern sie hinter mir vorbei. Ihre Wortfetzen werden langsam deutlicher, wie auf einer Bühne erscheinen sie und gehen wieder ab.
Die Luft riecht kalt, herb und ehrlich. Ich bedauere meinen eingeschränkten Geruchsinn. Er hat mich verlassen, als ich nach Berlin gekommen bin. Der Charme der berühmten Berliner Luft bleibt mir deshalb verborgen. Lediglich die erdige Note, die dem Waldboden und den Bäumen entströmt, kann ich wahrnehmen. Und dann natürlich auch noch den Maggigeruch der Wildschweine, die sich hier am Ufer durch die fruchtbare, lockere Erde wühlen, um nach Larven und Würmern zu suchen.