Ab jetzt Seniora oder Dame

Man muss nicht über jedes Stöckchen springen, das einem hingehalten wird, oder? Und über den Stock, der mir da von der UNO oder dem Europarat unter meine flotten Beinchen geworfen wird, springe ich mit graziler Lässigkeit hinweg. Von wegen junge Alte oder Seniorin mit 60 oder mit 65 Jahren. Ich bin Seniora!

Meiner Meinung nach gibt es zwei Dinge auf dieser Welt, die wirklich gerecht sind: Altern und Sterben! Das betrifft alles und jeden der lebt. Egal, ob Pflanze, Tier oder Mensch.

Bleiben wir bei uns Menschlein, denn damit haben wir genug zu tun. Per Zeugung und Geburt bettet uns die schicksalhafte Abstammung ein in das Leben. Ob auf einem Strohlager in einem Stall oder in einer Goldwiege gelandet wird, kann nach dem Abwurf von Gevatter Adebar, dem Klapperstorch, leider nicht mehr umgebucht werden. Eine andere, nicht mehr zu stornierende Buchung, die noch vor dem Check-In ins spätere Leben getätigt wird, ist das Geschlecht. „Divers“ hin oder her, es gibt nur zwei davon, egal, ob da die amtlichen Personaldaten geändert oder an den primären und sekundären Geschlechtsteilen herumgedoktert und -geschnipselt wird. Entweder gehören wir als Männlein in die blaue oder als Weiblein in die rosa Fraktion; die Farbe „Regenbogen“ gibts im Chromosomenfundus grundsätzlich nicht, so viel ich weiß. Weiter lasse ich mich über „Divers“ an dieser Stelle nicht aus. Und dann gibt es da noch etwas, das im Leben wesentlich dazu beiträgt, wie wir von unserer Umwelt wahrgenommen und behandelt werden: Unser Aussehen. Ich finde es verlogen, wenn behauptet wird, wie ein Mensch aussieht, ob hübsch oder hässlich, spiele keine Rolle. Seien wir ehrlich. Es spielt eine Rolle, und zwar eine mächtige. Wie mit einem Säugling umgegangen wird, hängt ab von Hübsch, Neutral oder Hässlich. Es gibt auch hässliche Kinder, doch keiner traut sich, das zuzugeben oder zu sagen. Um hübsche Kinder wird ein Bohei gemacht, hässliche Kinder laufen so nebenher. Doch entwickeln sich aus hässlichen Entlein oft hübsche Schwäne. Dann dreht sich das Verhalten der Umwelt um, so dass dem Schwan später die positive Aufmerksamkeit zuerteilt wird. Ich denke an Brigit Bardot, von der ihr Vater gesagt hat, sie sähe aus wie eine Ente. Ihre natürliche Haarfarbe war brünett, wodurch sie nicht besonders ins Auge fiel. Berühmt wurde sie erst als 18-Jährige, als aus ihr die berühmteste, gefärbte Blondine für den Film „Und immer lockt das Weib“ gemacht wurde. Ab da, also ab 1956, war sie für die Welt eine der hübschesten Frauen, doch schön war sie nicht. Das, so denke ich, ist sie jetzt mit knapp 90 Jahren.

Sind wir hübsch, öffnen sich beim Gegenüber wohlwollend die Augen. Sind wir dann auch noch halbwegs intelligent, erhalten wir Freifahrtscheine in eine vielversprechende Zukunft. Ob wir aus uns jedoch etwas machen, das heißt, an uns, am Charakter und an der Persönlichkeit arbeiten, liegt allein an uns selbst. Äußerliche Hübschheit ist eine Art Grundkapital, das uns die Götter zum irdischen Start geschenkt haben. Es liegt an uns, die zur Verfügung stehende Zeit, in der wir das Äußere einsetzen können, gewinnbringend zu nutzen. An allem Irdischen, so denn auch am Körper, nagt der berühmte Zahn der Zeit. Die innere Zellenuhr tickt, die Telomere werden mit jeder Teilung kürzer, je nachdem, wie rasant und auszehrend wir durch die zurückliegenden Jahre hasteten. Ab Vierzig geht’s abwärts mit der Hübschheit. Der Götterbonus ist aufgezehrt. Aus Lachfältchen werden Falten, trockene Haut, Runzeln. Die geschmeidig glänzenden Haare werden trocken und grau, auf dem Kopf oben und anderswo unten. Die Augenbrauen fallen aus und müssen durch gezogene Linien oder Tätowierungen ersetzt werden. Die Fingernägel werden spröde und brüchig, die monatliche Fingernagelmodelage geht ins Geld. Der blauen Fraktion sind die Fingernägel völlig egal. Die Kosten für Toupét, Perücke und Haartransplantationen gehen in die Tausende. Wer sich das nicht leisten kann, trägt nur noch Kapperl, auf Neudeutsch Basecap, oder Hut. Männliche Problemzonen sind weniger Beine und Po, sondern Bauch und Brust. Wie bitte, Brust? Jawohl. Viele Männer entwickeln ab dem Mittelalter einen Brustansatz, der sich bei regelmäßigem Bierkonsum zur B-Körbchengröße entwickeln kann. Was hilft ein trainierter Bizeps oder der Knackhintern, wenn sich alle Frauenaugen auf die weibliche Brust beim Mann richten? Die Lösung dafür ist Testosteron oder DHEA oder eine Brustverkleinerung. Das verstehen wir, oder? Die Jahre ziehen ins Land, Alltag, Familie und Beruf lenken gnädig von uns selbst ab und lösen langsam unsere frühere Hübschheit auf. Mitte Vierzig startet eine Art innerer Krieg, der dem einstmals jungen Körper den Garaus machen wird. Doch er zerstört ihn nicht, um der Zerstörung willen, sondern er löst ihn auf, um dem Menschen eine Reifung zu ermöglichen; es ist die innere. Anfang 60 gibt es den zweiten Alterseinbruch, bei dem sich der Körper extrem verändert und wir für Krankheiten und äußerliche Veränderungen anfälliger werden. Das behaupte ich nicht einfach so, sondern das haben Forscher der Stanford-University School of Medicine im Rahmen einer Studie nachgewiesen. Konkret wurde festgestellt, dass sich mit 44 und 60 Jahren – das wird als Alterungsgipfel bezeichnet – viele Moleküle stark innerhalb kürzester Zeit verändern. Auf zellulärer Ebene altert der Mensch in dieser Zeit am stärksten, weil vermehrt Zellschäden auftreten. Mitte 40 sind das Moleküle, die mit dem Herz-Kreislaufsystem sowie Haut und Muskeln zusammenhängen. Anfang 60 sind sie dann wieder davon betroffen, doch kommen auch noch Moleküle des Immunsystems und der Nierenfunktion dazu.

Immer wieder höre ich den Spruch: „Altern ist etwas für Mutige“. Das stimmt, wenn wir unseren Familien-, Bekannten- und Kollegenkreis betrachten, und damit uns selbst, da wir Teil dieser Verbände sind. Wir erleben Schicksalsschläge, Krankheiten und werden uns des Weges bewusst, auf dem wir uns dem eigentlichen Ziel des Lebens, nämlich dem Sterben, immer mehr nähern. Keiner von uns weiß, was der nächste Augenblick bringen wird, geschweige denn der nächste Tag. Doch haben wir Pläne für den nächsten Augenblick und den nächsten Tag, und das bedeutet, dass wir Hoffnung haben, nämlich Hoffnung darauf, weiterleben zu dürfen. Auf das Körperliche bezogen, braucht es sicherlich Mut, wegen möglicher Krankheiten und dem irgendwann sicheren Sterben nicht zu resignieren und in Depressionen zu verfallen. Doch Altern hat das Potenzial zu reifen, geistig und spirituell, ja, ich möchte behaupten universal.

Natürlich achte ich auf meinen Körper und auf meine Gesundheit, indem ich mich bewusster ernähre und regelmäßig Sport treibe. Ich war 16, als ich mit dem Laufen begonnen habe. Das habe ich mein ganzes Leben durchgehalten. Doch laufe ich heute besser und leichter denn je. Insofern hat sich mein lebenslanges Training ausgezahlt und hat mir Kondition und eine gute Muskulatur beschert. Auf den Kopf, sprich Hirn, habe ich nicht nur bei anderen, sondern auch bei mir selbst immer größten Wert gelegt. Das heißt, ich habe lebenslang gelernt, habe einige Berufe und habe mein letztes Studium letztes Jahr im Alter von knapp 60 Jahren abgeschlossen. Momentan lerne ich wieder etwas Neues, indem ich mich als Hopfenbäuerin ausbilden lasse und über die Hopfenlandwirtschaft ein umfassendes Buch schreibe. Meinen Beruf als Medizinerin liebe ich, und ich liebe die Arbeit mit meinen Patienten. Doch verwirkliche ich ab jetzt auch meine Lebensvision, nämlich die, eine Schriftstellerin zu sein und meine noch nicht veröffentlichten und auch ungeschriebenen Bücher zu verwirklichen und ihnen einen materiellen Ausdruck zu verleihen. Ich habe also noch sehr viel vor.

Vor allem aber genieße ich im Alter den Luxus der Wahrheit und Klarheit, weshalb ich für meine Umwelt bisweilen recht unangenehm sein kann. Ich bin für sie ein Spiegel, der ihr direkt und ohne diplomatischen Weichzeichner ihr Antlitz aufzeigt. Es macht mir nichts aus, nicht gemocht zu werden. Im Gegenteil, es kommt vor, dass ich froh bin, wenn mich Leute nicht mögen; denn ich mag sie auch nicht. Und so brauche ich niemandem ein Theater vorspielen. Die Fronten sind klar abgesteckt. Ich kann mich entspannen und tun und lassen, was ich möchte. Das ist Freiheit!

So, zum Schluss das Wichtigste überhaupt: Ich bin und werde keine Seniorin. Ich nehme mir nämlich die Italienerinnen und Französinnen zum Vorbild. In Italien werden Frauen jeden Alters als „Seniora“, in Frankreich als „Dame“ angeredet. Ja, das fordere ich ein und rufe alle Frauen über 60 auf, nur noch auf „Seniora“ oder „Dame“ zu hören. Deutschland ist längst überfällig für eine Reform der Höflichkeit gegenüber uns reifenden Menschen. Und Senioren? – Die kann sich die nächste Generation – die sich als „Z“(ero) bezeichnen, vielleicht aber doch nur „L“(oser) sind? –  in einigen Jahren selbst auf ihren runzeligen Hintern kleben.