Während meiner Zeit in Berlin arbeitete ich an einem biografischen Roman über „Willi Münzenberg“. Er war einer der wichtigsten Kommunisten in Deutschland und ein Weggefährte von Lenin während dessen Exilzeit in der Schweiz. Nach der Machtübernahme der Nazis floh er nach Frankreich, wurde dort beim Einmarsch der Deutschen interniert und von den eigenen (kommunistischen) Leuten auf Anweisung von Stalin ermordet.
Auf Münzenberg stieß ich während meiner Recherchen über die „Deutsche Freiheitspartei“. Ich hatte ein gegebenes Ehrenwort an „Charly“ zu halten. Ich lernte den Amerikaner in den 90-er Jahren auf einer Medienveranstaltung in München kennen. Er war damals schon 80 Jahre alt, doch seine Persönlichkeit war inspirierend überwältigend. Kein Wunder, war er doch ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter und hatte viel von der Welt gesehen. Unter anderem erzählte er mir, dass er gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in London stationiert war. In einer NS-Widerstandsredaktion fand er die sog. „Freiheitsbriefe“ und nahm diese mit. Er konnte allerdings nichts damit anfangen und fragte mich, ob ich sie haben wolle. Ich musste ihm versprechen, daraus etwas Literarisches zu erschaffen. Wir trafen uns zwei Wochen später am Starnberger See zur Übergabe einer braunen Tasche. Sie enthielt die „Freiheitsbriefe“ der Deutschen Freiheitspartei von 1938 bis 1943. Beim Lesen der „Freiheitsbriefe“ erkannte ich erst, welchen Schatz mir Charly überlassen hatte. Doch musste ich zunächst einmal erfahren, wer während des NS-Regimes diese „Freiheitsbriefe“ verfasst hatte.
2000 zog ich nach Berlin und lernte den ehemaligen Bild-Journalisten und Buchautor Volker Koop kennen. Er nahm mich unter seine Fittiche und lehrte mich die Recherchearbeit in Archiven. Mit ihm saß ich ein knappes Jahr im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde und im Archiv des Auswärtigen Amtes und vergrub mich tief in die Dokumente deutscher Geschichte, vor allem in die Gestapo-Berichte, in denen es um die Mitglieder der sog. „Deutschen Freiheitspartei“ ging. Es drehte sich dabei hauptsächlich um die Denunziation, Überwachung und Verhaftung von Sozialisten und Kommunisten. Der Name „Willi Münzenberg“ tauchte dazwischen immer wieder auf. Ich fing an, mich für den Kerl zu interessieren und sammelte in den Archiven und im Antiquariat alles, was ich über ihn finden konnte. Seine Persönlichkeit faszinierte mich mehr und mehr. Ich beschloss, einen biografischen Roman über ihn zu schreiben. Während des Schreibens wurde mir allerdings erst bewusst, welch großen Schuh ich dabei war, mir anzuziehen. Willi Münzenberg zog mich hinein in einen weiten Zeitraum der Weltgeschichte, in dem unter anderem zwei Weltkriege, die Oktoberrevolution und der Holocaust Millionen von Menschen das Leben gekostet hatte. Durch ihn erfuhr ich die Bedeutung von Mut, Macht, Heldentum, Verrat und Angst. Der Blick auf die jüngere Vergangenheit – ich meine, die Zeit ab 2020 während der Corona-Pandemie – verheißt mir von daher leider nichts Gutes; denn erkenne ich beängstigende Muster und Parallelen zu der Zeit, als der Idealist Willi Münzenberg noch aktiv war. Ich hoffe, ich liege falsch!
Im Folgenden sehen Sie die Bauskizze mit Fabel und Ereignisliste, die ich dazu angelegt habe.
Fabel: Ein Junge wächst in Armut unter der Herrschaft eines gewalttätigen Vaters auf und wird von allen Menschen ausgenutzt. Er verlässt seine Familie und wird Revolutionär. Als Erwachsener kehrt er in die Heimat zurück und feiert große Erfolge. Aufgrund seiner Gesinnung muss er ins Ausland fliehen. Nach erneuten Erfolgen erkennt und akzeptiert er die Wahrheit über seine eigene (kommunistische) „Familie“ und bricht daraufhin mit ihr. Ab da wird er von ihr gejagt und schließlich in Südfrankreich ermordet.
Ereignisliste:
Symbolik und Hintergründe der Tötungsart des Hängens wegen Verrat (Nestbeschmutzung)
Ein Mann im Todeskampf. Sein Name ist Willi Münzenberg. Er hängt an einem Baum in einer verlassenen Gegend in Südfrankreich. Sein Leben zieht an ihm als Film vorbei.
Flucht aus dem Internierungslager Chambaran, das südöstlich von Lyon liegt. Darin werden Tausende von Deutschen und Österreichern von den Franzosen gefangen gehalten.
Das Leben in einem französischen Internierungslager im Sommer 1940.
Münzenbergs Verhaftung und die spätere von Babette, der Lebensgefährtin von Willi Münzenberg.
Der französische Marschall Henry Pétain entsendet eine Verhandlungsdelegation zu den Deutschen. Unwürdige Waffenstillstandsbedingungen der Nazis gegen die Franzosen. Einzug der deutschen Wehrmacht in Paris (14. Juni 1940). Eine riesige Hakenkreuzfahne wird über dem Eifelturm gehisst.
Willi Münzenbergs Aufenthalt in Frankreich, Arbeit und Leben in Paris als kommunistischer, deutscher Freiheitskämpfer.
Freunde, Persönlichkeiten und Politiker, mit denen Münzenberg in Frankreich zu tun hatte. Ihre dramatische Lebens- und Fluchtgeschichten, ihr Engagement für den Frieden.
Deutschland beginnt den Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Wehrmacht marschiert in Polen ein.
Stalin-Hitler-Pakt. Gefährliche Kritik an Stalin, der Münzenberg daraufhin zum „Abschuss“ freigibt.
Münzenbergs Bruch mit den Genossen und dem Kommunismus.
Hitlers Annexionen in Europa und die Hilflosigkeit und Feigheit der europöischen Regierungen.
Aktivitäten und Widerstandsarbeit als Antifaschist in Frankreich.
Vertraute und Freunde Münzensbergs werden zu Spitzeln, Feinden und Verrätern.
Die Entstehung des „Braunbuchs“, das den Leipziger Prozess des Reichstagsbrandes öffentlich kritisiert und widerlegt und damit das noch junge Hitler-Regime entlarvt und zeitweise gefährdet.
Die Wahrheit über den angeblichen Reichstagsbrandstifter Marius van der Lubbe. Zusammenhänge mit dem homosexuellen SA-Führer Röhm und dem Begründer der Shell-Oil-Company.
Politische Situation in Europa und Deutschland in der Zeit zwischen 1933 und 1936.
Spanischer Bürgerkrieg, wo sich die Nationalsozialisten und Stalins „Rotgardisten“ für den späteren Ernstfall rüsten.
Provokationen und Attentate vonseiten der Deutschen und Sowjets, um die Kriegsgefahr zu schüren.
Ermorderung des jüdischen Nazi-Hellsehers Hanussen, der den Brand angeblich vorausgesehen hat und deshalb sterben musste, weil er zuviel über die Nazi-Größen wusste.
Münzenbergs Flucht aus Deutschland vor den Nazis nach dem Reichstagsbrand 28. Februar 1933 nach Frankreich.
Umstände, Hintergründe und Spekulationen zum Reichstagsbrand.
Machtergreifung der Nazis und Hitlers Ernennung zum Reichskanzler.
Münzenbergs Zeit als kommunistischer Abgeordneter im Reichstag.
Münzenberg als „roter Medienzar“ gründet ein Unternehmen nach dem anderen. Seine Zeitung „Welt am Abend“ entlarvt den Nazi-Freund Hanussen als Betrüger.
Stalin säubert seine Führung von Trotzkisten und Verrätern. Schauprozesse in Moskau. Münzenbergs Freunde verändern sich und verschwinden.
Stalins Einfluss auf die deutsche Politik und der Untergang der Weimarer Republik.
Kämpfe der Rechten und Linken schüren die Bürgerkriegsgefahr in Deutschland.
Münzenberg auf dem Höhepunkt als kommunistischer Propagandachef und genialer Manipulator der Intellektuellenszene in Deutschland.
Babette, die bürgerliche Tochter aus Potsdam, verliebt sich in Münzenberg und bricht mit ihrer Familie.
Reisen nach und Leben in Moskau und in der Sowjetrepublik.
Die Bolschewiken spalten und bekämpfen sich.
Münzenbergs Freund „Schlächter von Kanton“ fällt bei Stalin nach der gescheiterten Revolution in China in Ungnade.
Lenins Tod. Stalin wird neuer Generalsekretär.
Aus der IAH macht Münzenberg ein internationales Medienunternehmen. Er dreht Filme, u. a. „Panzerkreuzer Potemkin“.
Die ganze Welt spendet für Russland, die IAH wird gegründet.
Die russische Hungersnot 1921 kostet Tausenden das Leben.
Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin.
Aus dem Spartakusbund wird die KDP (Kommunistische Deutsche Partei).
Russlands Versuche, einen neuen Weltkrieg zu beginnen. Einmarsch in Polen und im Baltikum.
Außenminister Walther Rathenau wird von Nationalisten ermordet.
Rapallo-Vertrag und Geheimabkommen zwischen Russland und dem Deutschen Reich.
Ende des Ersten Weltkriegs.
Lenin und Trotzki und die Oktoberrevolution.
Münzenberg wird im plombierten Zug nach Schweden transportiert. Nach Rückkehr in die Schweiz bekennt er sich zur Oktoberrevolution und wird daraufhin verhaftet.
Im Schweizer Gefängnis.
Lenin und mehrere Millionen Goldmark (als Unterstützung für die russische Revolution) werden quer durch Deutschland im plombierten Diplomatenzug nach Russland transportiert.
Münzenbergs Freundschaft mit Lenin und den russischen Revolutionären.
Münzenbergs erste Liebe.
Leben in der Schweiz als Jungsozialist und Herausgeber seiner ersten Zeitung.
Münzenberg geht von Thüringen zu Fuß in die Schweiz.
Münzenberg arbeitet in einer Erfurter Schuhfabrik und tritt dem heimlichen, sozialistischen Verein „Propaganda“ bei. Erste unangenehme Erfahrungen mit Mädchen.
Schwere Kindheit in Thüringen (Erfurt und Gotha). Herrschsüchtiger, boshafter Vater.
Die Mutter stirbt, als Willi Münzenberg vier Jahre alt ist.
Der Moment, in dem Münzenbergs Seele die Welt verlässt und sein starrer Körper von einem warmen Abendwind in der Provence sanft geschaukelt wird.
Ich habe die Ereignisse chronologisch, also der Reihenfolge nach notiert, wie sie sich in der Geschichte abspielen würden. Als verknüpfendes Motiv habe ich Münzenbergs Gedanken und Betrachtungen zum Zeitpunkt seiner todesnahen Rückschau gewählt. In den Momenten seines Sterbens, wenn sich sein Lebensfilm abspult, der ihn von der Gegenwart in die Vergangenheit führt, offenbart sich ihm die absolute Erkenntnis des Ganzen. Damit kann er sich am Ende seines Lebens alle Fragen beantworten.
Textversuch:
Als sich nach dem Sturz des russsichen Zaren im Frühjahr 1917 für die Deutschen nichts an den erfolglosen Kämpfen im Osten änderte und ein Sieg über die geschwächten Russen weiterhin ausblieb, entschied sich die Oberste Heeresleitung für eine Trojanische List. Heimlich organisierten sie Wladimir Illjitsch Uljanows Rückkehr nach Russland. Als Dreißigjähriger hatte dieser sich das Pseudonym „Lenin“ zugelegt, und vor über neun Jahren war er mit einigen seiner Anhänger zuerst nach Finnland und dann in die Schweiz geflohen. Dort wartete er auf seine große Chance als Revolutionär. Dank der deutschen Spekulationen schlug für ihn im April 1917 dann seine große Stunde. Mit seiner Hilfe, oder besser, durch eine dritte Revolution in Russland würde das Land innenpolitisch dermaßen geschwächt werden, dass es bedingungslos einen Separatfrieden mit Deutschland annehmen würde.
In einem diplomatisch versiegelten Zug, der zum exterritorialen Gebiet erklärt worden war, wurden Lenin und einige seiner bolschewistischen Genossen mit Hilfe des deutschen Geheimdienstes problemlos durch die Gebiete der russischen Kriegsgegner Deutschland, Schweden und Finnland transportiert. Allerdings führte sie der Weg zunächst direkt in die deutsche Reichshauptstadt Berlin. Von dort aus hatte eine perfekt getarnte Bolschewikenzentrale, die mit Lenin in der Schweiz und mit dem deutschen Geheimdienst zusammenarbeitete, auf den bevorstehenden Sturz der russischen Regierung monatelang hingearbeitet. Finanziert wurde das ganze vom Deutschen Reich, indem es aus einer Schwarzkasse vierzig Millionen Goldmark hervorzauberte, die in zwei unscheinbaren Holzkisten auf den Zug der glücklich fiebernden Revolutionäre geladen wurden. Es war das Danaergeschenk der Deutschen, das den Bolschewiken unter der Führung von Lenin und Leo Trotzki am 22. Oktober 1917 zur Machtübernahme verhalf. Drei Tage später entmachteten sie alle Gutsherren und Kapitalisten und bestätigten die Umsturzdekrete über den Frieden, über den Grund und Boden und über die Rechte der Völker Russlands. Von einem Tag zum anderen war aus Lenin, der vor kurzem noch als Flüchtling in Bern bescheiden zur Untermiete gewohnt hatte, einer der mächtigsten Männer der Welt geworden.
Im diplomatisch versiegelten Eisenbahnwagen war Lenin also problemlos in seine russische Heimat zurückgekehrt. Ein paar Monate später konnte auf diese angenehme Weise auch Willi Münzenberg nach Schweden reisen. Der deutsche Geheimdienst hatte von ganz „oben“ die Order bekommen, alle sozialistischen Aktivitäten, die von Schweizer Exilanten geplant und unternommen wurden, zu unterstützen und wohlwollend zu behandeln.
Während Willi in Stockholm als Zentralvorstand der sozialistischen Jugendorganisation an einer Friedenskonferenz teilnahm, organisierten Lenin und Trotzki ihren Staatsstreich in Petrograd, der daraufhin als „Große Sozialistische Revolution“ gefeiert wurde. Wieder zurück in der Schweiz organisierte Willi dort Demonstrationen und Streiks, die sich zu den Zielen der Bolschewiken und der russischen Oktoberrevolution bekannten. Solch eine Entwicklung machte der Schweizer Regierung indes große Sorgen, denn ein sozialistischer Umsturz war das Letzte, was sie in diesen unruhigen Zeiten brauchen konnte. Als auch noch die bürgerliche Presse der Schweiz entrüstet darüber wetterte, dass sich der Agitator Willi Münzenberg immer noch in Freiheit befand, wurde er verhaftet und im abgelegenen Zuchthaus Witzwil interniert. Am Abend, bevor er hinter den dicken Mauern dieses wunderschön in der Natur gelegenen, altertümlichen Gefängnisses verschwand, feierte er bis spät in die Nacht in seinem Lieblingsrestaurant „Cooperativa“ mit seinen Freunden und Genossen Abschied. Seine Freundin Adele, die an diesem Abend noch nicht wusste, dass sie von ihm ein Kind erwartet, saß still neben ihm. Willi spürte, dass etwas nicht in Ordnung war: „Mädel, was ist denn los mit dir? Bist du so traurig, dass ich morgen ins Gefängnis muss? Nimms doch nicht tragisch. Ist doch nicht für lange Zeit.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft. Darauf lächelte Adele ihn schwach an. „Ich weiß ja, dass du spätestens in einem halben Jahr wieder draußen bist. Doch jetzt kommt mir die Zeit, die wir getrennt sein werden, so lange vor. Aber das alleine ist es nicht, worüber ich nachdenke.“ In ihrer Stimme lag ein leiser Vorwurf, als sie hinzufügte: „Was wird aus uns werden?“ Willi wusste, worauf Adele anspielte. Er kannte ihre Hartnäckigkeit, von der er überzeugt war, dass sie bei Adele keine Ausnahme war, sondern dass es eigentlich ein ganz positiver Charakterzug der Schweizer war. Allerdings wäre es ihm momentan lieber gewesen, wenn Adele diesen nicht an sich gehabt hätte. In letzter Zeit sprach sie ihm nämlich zu oft vom Heiraten. Doch seine Beteuerungen, dass er sie liebte und dass alles so gut war, wie es war, stießen bei ihr auf taube Ohren. Sie kam aus einem guten Schweizer Elternhaus, in dem auf die Ehe großen Wert gelegt wurde. Und Kinder wollte sie auch gerne von ihm. Willi dagegen hielt davon wenig. Er wollte weder heiraten noch Kinder haben. Hinter seiner sozialistischen Überzeugung, dass Ehe nichts anders als bürgerlicher Firlefanz war, verbarg sich allerdings etwas anderes. Es war die Angst davor, sich lebenslang an einen anderen Menschen zu binden, diesem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Auch, wenn er sich dessen nicht bewusst war, so lebte in ihm der kleine Junge, der sich vor vielen Jahren geschworen hatte, sich für den Rest seines Lebens nur auf sich selbst zu verlassen. Kein anderer Mensch sollte seinem Herzen jemals zu nahe kommen. Zwar änderte sich seine misstrauische Haltung ein wenig, als er Adele kennenlernte, doch spürte er, dass er seit geraumer Zeit dabei war, sich gefühlsmäßig von ihr zu distanzieren. Je mehr sie in ihn eindrang, desto unangenehmer wurde es für ihn. Vielleicht war er feige, einen Schlussstrich unter die Beziehung mit ihr zu ziehen. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Wobei noch hinzu kam, dass Adeles Vater früher sein Chef gewesen war. Dieser hatte eine Apotheke in der Stadt, und Willi hatte bei ihm als Laufbursche angefangen, als er nach Zürich gekommen war. Im Laufe der Zeit war er allerdings „aufgestiegen“, was hieß, dass Willi die Kunden in der Apotheke bedienen durfte. Mit seiner charmanten und freundlichen Art machte er seine fehlende medizinische Bildung wett, und Dank seiner raschen Auffassungsgabe und seinem außergewöhnlichen Lerneifer hatte er sich innerhalb kurzer Zeit alles Wissenswerte angelesen. Sein Laienwissen brachte er dann so geschickt unter die Kundschaft, dass die Leute glaubten, vor ihnen stünde ein ausgebildeter Mediziner. Manchmal lud ihn Adeles Vater zum Abendessen ein, da ihm Willi leid tat, wenn dieser abgemagerte, junge Kerl nach Feierabend vor ihm stand und sich seinen kargen Tageslohn auszahlen ließ. Ja, er mochte diesen hitzköpfigen Idealisten, wenn er nach dem Essen ohne Scheu eine flammende Rede über den Kampf gegen den Kapitalismus und gegen den Krieg hielt. Dabei begegnete ihm die Tochter des Apothekers, Adele, die sich Hals über Kopf in ihm verliebte. Allerdings brauchte Willi lange, bis er Adeles Zuneigung bemerkte, und dann noch länger, bis er seinen ganzen Mut zusammennahm und Adeles Vater fragte, ob er mit Adele einen Sonntagsausflug an den Zürichsee unternehmen durfte. Hätte der Apotheker allerdings geahnt, wie sich Willis Gesellschaft auf seine einzige Tochter auswirkte, dann hätte er seine Zustimmung wohl nicht gegeben. Und wenn es nach Willi gegangen wäre, hätte sich aus dem gemeinsamen Sonntagsausflug niemals eine intime Beziehung zu Adele entwickelt. Der ansonsten recht schlagfertige Willi war von Adeles treibender Kraft und Leidenschaft schier überrumpelt worden. Am Anfang versuchte er sich einzureden, dass ihm nichts Besseres hatte passieren können. Immerhin war Adele das einzige Kind seines Chefs. Oft nervte ihn, wenn sie bei allen Treffen und Versammlungen mit seinen Genossen und Freunden dabei sein wollte. Doch es meldete sich sein schlechtes Gewissen, wenn er sah, wie sich Adele abmühte, seine Arbeit als Redakteur und Vorsitzender zu unterstützen, oder, wenn sie statt Modezeitungen zu lesen, sich mit dem Studium von Lenins „Marxismus und Revisionismus“ quälte.
Adele liebte Willi aus ganzem Herzen, und am liebsten hätte sie ihn sofort geheiratet. Auch, wenn sie hartnäckig und stur war, so war sie weder blind noch dumm. Sie wusste, dass er sie gern hatte, aber nicht liebte. Ungezählte Male hatte sie ihn heimlich betrachtet und sich gefragt, was hinter diesen dunklen, fast schwarzen Augen und unter diesem nicht zu bändigenden braunen Haarschopf alles vor sich ging. In das Herz dieses Energiebündels würde sie niemals blicken können. Es war unendlich weit von ihr entfernt. Eifersüchtig stellte sie auch immer wieder fest, dass die anderen Mädchen ebenfalls von Willi angetan waren. Im herkömmlichen Sinn war er eigentlich gar kein attraktiver Mann, doch er hatte etwas Besonderes an sich, das nicht nur junge wie ältere Frauen besonders ansprach, sondern eigentlich alle Menschen spürten. Vielleicht war es sein Blick, der sein Gegenüber wie ein Blitzschlag treffen konnte. Seine tiefe und doch wieder jungenhafte Stimme, der man willenlos alles glaubte, was sie sagte. Ohne, dass es Willi darauf angelegt oder gewollte hätte, war ihm Adele vom ersten Tag ihrer Begegnung an verfallen gewesen. Womöglich liebte sie ihn, weil sie seine Sehnsucht nach etwas Großem und Weltbewegendem spürte. Und genau dafür und nicht wegen eines anderen Mädchens würde er sie eines Tages verlassen.
Seinen letzten Abend in Freiheit wollte sich Willi nicht verderben. Er entschuldigte sich bei Adele: „Siehst du dort drüben den Hans? Ihm habe ich die Leitung des Jugendsekretariats übertragen, solange ich im Gefängnis sein werde. Mit dem muss ich unbedingt noch ein paar ernste Worte reden. Es kann vielleicht etwas länger dauern. Auf mich zu warten, brauchst du nicht.“ Willi vermied, ihr in die Augen zu sehen und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Dann drehte er sich um und ging an den Tisch, an dem Hans saß. Adele stand ratlos da und überlegte, was sie machen sollte. Mit Willis Freunden über Politik oder die bevorstehende Weltrevolution, von der Lenin immer geträumt hatte, zu philosophieren, hatte sie keine Lust. Ihr war auch nicht ganz gut, was sie auf den zu fetten Gänsebraten schob. Adele nahm ihre Tasche und zog sich den Mantel über. Ihr trauriger und müder Blick ruhte einen Augenblick auf Willi, der gerade lauthals lachte und nach seinem Bierhumpen griff, um mit Hans auf den morgigen Tag anzustoßen. Sie schlüpfte mit eingezogenem Kopf und hochgezogenen Schultern zur Tür des Restaurants hinaus. Weinend machte sie sich auf den Weg nach Hause.
Am nächsten Tag war es so weit. Um acht Uhr früh musste sich Willi bei der Zuchthausverwaltung von Witzwil melden. Alle seine Freunde, die vergangene Nacht mit ihm im „Cooperative“ durchgezecht hatten, wollten ihn zum Gefängnis begleiten. Trotz Kater und Kopfschmerzen war Willi in bester Stimmung. Es fiel ihm nicht einmal auf, dass Adele fehlte: „Damit es mir dort nicht zu langweilig wird, habe ich ein wenig Lektüre eingepackt.“ Verschmitzt lachend deutete er auf einen riesigen Bücherkoffer, in dem er einen Teil seiner Propagandaliteratur verstaut hatte. Die pummelige Erika, die in Willi verliebt war, drückte ihm einen Blumenstrauß in die Hand und meinte mit einem verlegenen Wimpernaufschlag: „Um es dir in deiner Kammer ein wenig gemütlich zu machen und dass du vielleicht auch mal an mich denkst, nicht wahr?“ Willi feixte: „Natürlich werde ich an dich denken. An euch alle werde ich denken und euch vermissen. Ich erwarte von euch, dass ihr mich möglichst oft besuchen kommt.“ Als Antwort darauf erscholl aus zwei Dutzend Kehlen: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt. Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch macht mit den Bedrängern! Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger alles zu werden, strömt zu Hauf – Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!“ Auf ihrem Weg durch die Straßen öffneten sich die Fenster der Bewohner, die das Treiben der jungen Leute teils belustigt, teils verärgert kommentierten.
Am Eingang des Gefängnisses drückte Willi dem verdutzten Kriminalbeamten Erikas Blumenstrauß in die Hand und stellte sich fröhlich vor: „Ich bin für acht Uhr als ihr neuer Gast angemeldet. Nach den Formalitäten können sie mir, wenn sie wollen, mein Zimmer zeigen.“ Seine Freunde, die Willis Vorstellung hörten, klopften sich vor Lachen auf die Schenkel. Doch dem Gefängnisdirektor, der sich inzwischen respekteinflößend vor Willi aufgebaut hatte, gefiel dieser gut gelaunte Herr im schwarzen Samtrock ganz und gar nicht: „Was fällt ihnen ein, hier eine solche Komödie aufzuführen! Das hier ist ein Gefängnis und kein Theater. – Ihr Name!“ Will ließ sich weder von dem hochroten Kopf des Direktors noch von dessen harschen Worten einschüchtern, sondern im selben fröhlichen Ton meinte er: „Ich heiße Willi Münzenberg. Doch auch, wenn dies hier ein Gefängnis ist, so wird gute Laune und Lachen doch nicht verboten sein. Oder gibt es dazu etwa ein Gesetz?“ In seiner hilflosen Wut brüllte der Gefängnisdirektor die jungen Leute an: „Alles Raaaauuuus!“ – Doch die ließen sich keineswegs davon abhalten, sich mit Händeschütteln und Umarmungen von Willi zu verabschieden. Als der Kriminalbeamte die Türe hinter dem letzten zugeschlagen hatte, ordnete der Direktor brüllend an: „Haare schneiden, einkleiden, Dunkelarrest für den Rest des Tages!“
Willi lebte sich schnell und problemlos in den Gefängnisalltag ein. Von seiner geräumigen und gut möblierten Gefängniszelle im abgelegenen Zuchthaus Witzwil aus, das den Sonntagsspaziergängern aus der Stadt eher wie eine Brauerei oder ein efeuumranktes Irrenhaus vorkam, bot sich ihm ein phantastischer Blick über den Zürichsee. Er fühlte sich wohl in seinem „Herrenstübli“, was sicherlich unter anderem auch der idyllischen Lage dieses grauen Hauses, das inmitten von Wäldern und Wiesen lag, zu verdanken war. Außerdem mochten ihn die Leute vom Gefängnispersonal dank seiner charmanten Art recht gerne; denn einen derartig umgänglichen Häftling wie Willi hatten selbst die altgedienten Wärter noch nicht erlebt. Oft plauderte Willi mit dem wachhabenden Personal in seiner geräumigen Zelle über Gott und die Welt, während seine Zellentüre offenstand. Er war für sie eine willkommene Abwechslung vom tristen Zuchthausleben, wie ein frischer Wind. Wenn er ihnen davon erzählte, wie er seinen Freund Lenin und dessen Frau kennengelernt und wie dieser ihm seine Pläne, den Kommunismus über die ganze Welt zu verbreiten, offenbart hatte, standen Augen und Münder weit offen. Bereits vor fünf Jahren prophezeite Lenin seinem jungen Freund: „Den Anfang macht die Revolution in Russland. Und als nächste Station liegt Deutschland auf dem Wege zur weltweiten sozialen Umwälzung.“ In den Ohren der braven Schweizer Gefängniswärter, die hier genauso abgeschieden und eingesperrt lebten, wie die Häftlinge, klangen die Worte des großen Revolutionärs unglaublich. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass solch große Veränderungen eines Tages wirklich passieren würden. Vieles, wovon Willi sprach, verstanden sie nur in Ansätzen. Dafür waren sie umso begeisterter davon, wie er ihnen die Zukunft und die Ideale des Kommunismus ausmalte. Manchmal wurden diese, ansonsten schwerfälligen Schweizer Beamten von Willis enthusiastischer und optimistischer Stimmung derartig angesteckt, dass sie am liebsten alle Gefängnistüren aufgerissen und mit den Gefangenen Hand in Hand hinaus in die Welt marschiert wären, um dort gegen und für alle mögliche zu streiken. Ja, dank der täglichen Vorträge, die er vor dem Gefängnispersonal hielt, trainierte und perfektionierte Willi seine großartige Rednergabe, indem er die Stimmung seiner Zuhörer blitzschnell erfasste und mit ihren Wünschen und Träumen wie ein Virtuose auf dem Klavier menschlicher Emotionen herumspielte. Denn auch das Schweizer Gefängnispersonal war mit den gegebenen Arbeitsbedingungen unzufrieden. Und Willi war der erste Mensch, dem sie ihren Ärger über die schlechte Bezahlung anvertrauten. Umgekehrt versorgten sie ihn, unter dem wohlwollenden Auge des Gefängnisdirektors, mit Zeitungen aus aller Welt. Vor allem interessierte ihn, was in seiner Heimat, dem Deutschen Reich, ab Sommer 1918 alles los war. Und das war eine Menge. Deutschland war von einer revolutionären Stimmung erfasst worden. Von seinen Freunden aus dem Schweizer Jugendsekretariat in Bern erfuhr er, dass ein Jahr nach Russlands Revolution endlich auch eine in Deutschland entfesselt worden war. „Euer Kaiser ist nach Belgien abgehauen, und überall in Deutschland wird gestreikt. Die Offiziere haben Schießbefehl gegeben, doch die Soldaten weigern sich, auf ihre Landsleute zu schießen. Erinnerst du dich an Friedrich Ebert? Das ist doch ein ehemaliger Schüler von der Luxemburg Rosa. Der hat die Soldaten davon überzeugt, die SPD zu unterstützen. Es wird allerdings gemunkelt, dass er Angst vor den Linken der SPD, den Spartakisten, hat, dass die nämlich die Arbeiter auf ihre Seite ziehen könnten. Im Zentrum von Berlin demonstrieren Hunderttausende von denen mit Plakaten und Spruchbändern, auf denen „Einigkeit“, „Recht und Freiheit“ und „Brüder, nicht schießen“ steht.
Willi war darauf gespannt, ob und wie Lenin seinen Traum, den er ihm kurz vor seiner Abreise nach Russland anvertraut hatte, verwirklichen würde. Lenin hatte Willi zum Abendessen zu sich in die Spiegelgasse in Bern eingeladen, um sich bei ihm dafür zu bedanken, dass er seine politischen Aufsätze in Willis Zeitung „Die Freie Jugend“ hatte veröffentlichen können. Dabei hatte er ihm anvertraut: „Wenn ich die Sache in Russland ins Rollen gebracht habe, dann werde ich als nächstes Deutschland sowjetisch machen. Wenn ich erst die Revolution im Herzen von Europa verwirklicht habe, wird sie sich über die ganze Welt verbreiten.“
Nicht nur das Gefängnispersonal samt Direktor war von Willi angetan, sondern auch die Gattin des Gefängnisdirektors Brunner. Sie hatte wohlwollend ihre mütterlichen Arme über ihn ausgebreitet. Wie ein Sohn war er für sie geworden, den sie sich sehnlichst gewünscht und nie bekommen hatte. Über die Annehmlichkeiten und Vorteile, die daraus erwuchsen, freute sich Willi natürlich sehr und bedankte sich bei der Frau des Direktors damit, dass er sich liebevoll um ihren Gemüsegarten kümmerte, während die anderen Häftlinge zur schweren Holzarbeit im Wald eingeteilt waren. Das erste und einzige Mal in seinem Leben, ausgerechnet im Gefängnis, spürte er in sich eine Liebe. Nicht die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern jene, die es nur zwischen einer Mutter und ihrem Sohn gibt. Zwischen ihm und der Frau, neben der er oft am Rande der Beete kniete und Unkraut auszupfte, hatte sich ein Band tiefen Vertrauens und Verstehens geknüpft. Frau Brunner erzählte Willi von ihren unerfüllten Träumen und erloschenen Hoffnungen. Und auch er schaffte es wenigstens ein einziges Mal, vor ihr sein Herz zu öffnen. Zum ersten Mal, seitdem er seine Heimat verlassen hatte, ließ er die Erinnerungen seiner verlorenen Kindheit zu. Es war der 14. August 1919, an seinem neunundzwanzigsten Geburtstag, als er mit der Frau des Direktors auf der Terrasse ihres Hauses saß. Vor ihm stand eine Geburtstagstorte, die Frau Brunner für ihn gebacken hatte. Sie schüttelte Willi die Hand und gratulierte ihm. Sie gab ihm ein Geschenk, ein kleines Päckchen, das in hellblaues Seidenpapier eingewickelt war. Willi traute sich nicht, das Geschenk anzunehmen; denn es war doch ungewöhnlich, dass ein Häftling von der Frau des Gefängnisdirektors derartig gut behandelt und dann auch noch beschenkt wurde. Die liebe Frau Brunner lächelte Willi an: „Du brauchst dich nicht zu genieren. Wir beide kennen uns jetzt gut genug, und du weißt, dass du mir wie ein Sohn ans Herz gewachsen bist. Es ist übrigens ein recht egoistisches Geschenk, dass du von mir bekommst. In meinem Leben wird sich nicht mehr viel ereignen. Doch du hast noch dein Leben vor dir. Lieber Willi, ich wünsche dir, dass alle deine Wünsche in Erfüllung gehen werden.“ Willi umarmte Frau Brunner, und als sie ihm mit ihren Händen auf die Schulter klopfte und leise „Mein Sohn, Gottes Segen sei mit dir“ murmelte, fing Willi an zu weinen. Peinlich berührt, ließ er die Frau los. „Entschuldigen Sie, Frau Brunner, Sie sind so gut zu mir. Ich weiß auch nicht, warum ich gerade jetzt, wo Sie mir einen so schönen Geburtstag bescheren, wie ein kleines Mädchen losheulen muss.“ Willi wischte sich seine Tränen ab und drehte das kleine Päckchen zwischen seinen Händen. „Na, mach schon auf. Worauf wartest du?“ Frau Brunner zeigte scherzhaft tadelnd auf das Geschenk. Umständlich nahm Willi das Papier ab und hervor kam ein schwarzes Samtkästchen, auf dessen Deckel in goldenen Lettern „Uhrmacher Breitlmann“ stand…
Zeitraffendes Geschehen mit zeitdehnender Unterbrechung, Rückkehr zur Zeitraffung
Am 14. Juni 1940 zog die deutsche Wehrmacht triumphierend in Paris ein und hisste ihre rote Hakenkreuzfahne über dem Eifelturm. Eine Woche später entsandte Marschall Henry Philippe Pétain, der im Ersten Weltkrieg ein Nationalheld gewesen war, eine Verhandlungsdelegation zu den Deutschen. Mit unwürdigen Waffenstillstandsbedingungen befriedigte Hitler seinen tiefen Hass gegen die Franzosen. Aus Frankreich wurde eine geteilte Nation, in der die Deutschen den gesamten nördlichen und westlichen Teil des Landes besetzten, während der Süden von der im französischen Kurort Vichy ansässigen Regierung unter Pétain regiert wurde.
Die „Büchse der Pandorra“ war offen. Aus ihr marschierte das Unheil mit deutschen Wehrmachts- und SS-Stiefeln über Frankreichs Grenzen hinweg. Tausende von Emigranten, die seit Januar 1933 entweder aus politischen oder rassistischen Gründen vor dem nationalsozialistischen Dämon auf der Flucht gewesen waren, zogen seit Mai 1940 die französische der deutschen Gefangenschaft vor. Nach einer Bekanntmachung der französischen Behörden meldeten sich die meisten von ihnen in einem der beiden Übergangslager „Stade de Colombes“ oder „Stade Buffalo“. Bis zu siebentausend Menschen drängten sich auf diesen nur Fußballplatz großen Sammelstellen, auf denen es nicht gerade menschenwürdig zuging. Verglichen mit Colombes war das Buffalo eine Sommerfrische. Eigentlich war es ja auch kein richtiges Lager. Denn ein richtiges französisches Konzentrationslager stand außerhalb der Naturgesetze, weil es sich nicht aus vier, sondern nur aus drei Elementen zusammensetzte: Erde, Luft und Stroh. Wasser und Feuer gab es nicht. Im Stade Buffalo gab es immerhin etwas Wasser zum Waschen. Feuer brauchte man nicht, denn das Wetter war herrlich, wie das meistens ist, wenn im Krieg eine Katastrophe großen Stils beginnt. Die Verpflegung war, wenn nicht gerade gut und reichlich, so doch bekömmlich. Im Stade Buffalo musste keiner hungern, und man musste auch nicht die Latrinen der Soldaten reinigen, und man bekam keine Kolbenstöße und keine Peitschenhiebe wie in Colombes. In diesen beiden Lagern landeten im Frühjahr 1940 alle Emigranten und Exilanten, für die Frankreich in den letzten Jahren zur rettenden Insel oder gar eine neue Heimat geworden war. Von den beiden Sammellagern aus ging es ein paar Tage später weiter in verschiedene Internierungslager, die alle in der südlichen Provinz lagen. Seit dem Einmarsch der Deutschen herrschten dort Furcht und Schrecken. Die Gefangenen, die fast alle aus Deutschland und Österreich stammten, wussten, was mit ihnen geschehen würde, wenn sie ihren nationalsozialistischen Landsleuten in die Hände fielen: Transport nach Deutschland, Folter, Konzentrationslager. Doch bevor der Henker gnädigerweise den bloßgelegten Nacken mit seinem Handbeil durchtrennte, oder bevor die Henkersgruppe endlich ihre erlösende Salve auf den geschundenen und zerpeitschten Körper abgab, wurden aus den eingefangenen Rückkehrern aus Frankreich die absurdesten Geständnisse und Denunziationen herausgepresst.
Das Lager Chambaran lag südöstlich von Lyon. Früher hatte es der französischen Artillerie als Übungsplatz gedient. Jetzt war es mit Stacheldraht umzäunt und wurde von Begleitmannschaften, die mit aufgepflanzten Bajonetten und Polizeihunden bewaffnet waren, strengstens bewacht. Von den gefangenen Deutschen und Österreichern dachte jedoch keiner an Flucht, selbst, wenn das Eingangstor des Lagers sperrangelweit offen gestanden hätte. Die Männer kannten die auswegslose Situation auf der anderen Seite des Stacheldrahtes. Keiner mochte seine sichere Gefangenschaft gegen eine lebensgefährliche Freiheit eintauschen. Abgesehen von den Wachleuten, die ihre französischen Befehle durch das Lager brüllten, wurde im Lager deutsch gesprochen. Die deutsche Muttersprache war aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit der Gefangenen in Chambaran. Ansonsten bestand die Einwohnerschaft des Lagers aus unterschiedlichen, um nicht zu sagen, konkurrierenden Gruppen. Deutsche und österreichische Juden, Christen, Kommunisten, Monarchisten, Demokraten, Nazis, Sozialisten, Gewerkschafter, Intellektuelle und Unternehmer. Und vor allem befanden sich jede Menge braune und rote Spione und Spitzel darunter, die von nationalsozialistischer oder kommunistischer Seite auf ganz bestimmte Flüchtlinge angesetzt worden waren. Ihr Ziel war es, die ahnungslosen Opfer entweder nach Moskau oder nach Berlin zu entführen oder bei passender Gelegenheit zu liquidieren, sprich, umzubringen. Obwohl man hätte meinen sollen, dass die lauernde Gefahr und die gemeinsame Not nationale Differenzen beseitigt oder wenigstens für eine Weile verdrängt hätte, herrschte zwischen den Deutschen und Österreichern eine feindliche Spannung. Die große Gruppe der Deutschen hielt die Österreicher für arrogant und faul. Dagegen wollten die Österreicher von den Piefkes in Ruhe gelassen werden. Sie waren ja schließlich an ihrem Elend schuld. Hitler, alias Adolf Schicklgruber, mag ja ein Österreicher gewesen sein, bevor er der „Piefke-Führer“ wurde. Doch der hatte die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen, als er sich 1925 als Kandidat um das Amt des deutschen Reichspräsidenten bewarb. Die Braunschweigische Regierung hatte ihn zum Beamten ernannt, wodurch ihm automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft in den Schoß fiel. Was die Österreicher allerdings nicht wussten, war, dass Adolf Hitler bereits vorher, als der spätere NSDAP-Innenminister Wilhelm Frick noch in der Regierung von Thüringen als Minister amtierte, die thüringische und damit die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen worden war. Allerdings war diese verfassungswidrig gewesen, weil das thüringische Staatsministerium dazu nicht befragt worden war.
Unberücksichtigt von Staatsangehörigkeit, Religion oder politischer Gesinnung gab es im Lager von Chambaran eine Handvoll Menschen, die sich Dank ihrer besonderen Herzensbildung und ihres unkonventionellen Geistes nicht so einfach zuordnen ließ. Trotz der tragischen und entwürdigenden Lebensbedingungen, mit denen sie auf ihre Art und Weise zurecht kamen, weil sie es mussten, fuhren sie fort, sich über das Menschsein an sich ihre eigenen Gedanken zu machen. – Zeitdehnung –
Cukiersy war so ein Mensch. Seine närrische Weisheit wirkte auf sonderbare Weise entzückend naiv. Deswegen wohl vermochte ihn keiner völlig ernst zu nehmen. Die Klugheit, weil sie höllentief unter der Weisheit steht, dünkte sich ihr himmelhoch überlegen. Ein Beispiel seines tiefen, ver-rückten Sinnes war eine Unterhaltung, die er mit einem seelenverwandten Lagerkameraden während eines Spaziergangs durch das Lager führte, indem er die Frage aufwarf: „Erkennt man den Juden am Ende an seiner Oberlippe oder am Mund? Jedenfalls nicht an der Nase. Am besten, am sichersten noch an den Augen. Denn beim Judentum handelt es sich nicht um ein körperliches, sondern um ein psychisches Phänomen.“ Cukiersky sprach weiter, ohne sich darum zu kümmern, ob der Kamerad seinen Gedanken folgen konnte, und deutete auf einen Wachsoldaten, der in einem Marionettenschritt auf der Lagermauer hin und her ging. „Das ist ein netter Junge. Doch einen Berliner Juden von einem Preußen zu unterscheiden, wird er ja doch nie lernen.“ Statt einer Antwort auf die Frage, woran man einen Juden erkannte, entgegnete Cukierskys Begleiter: „Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Nein, besser ich werde einen Mann zitieren, der eine Beobachtung gemacht hat, der sich von ihnen und mir naturgemäß bei weitem stärker unterscheiden sollte, als diese billigen Arier in unserem Lager. Vor einigen Jahren hat ein russischer Fürst ein merkwürdiges Geständnis aufgeschrieben und in einer Tageszeitung veröffentlicht. Der Fürst sagt da „im alten Russland des Zaren habe ich nicht viele Juden gekannt, und ich habe mich auch nicht um sie gekümmert. Wenn in Gesellschaft von Juden die Rede war und Nachteiliges über sie gesagt wurde, tat ich, wie es damals die Mode war, gedankenlos mit. Wenn man mich gefragt hätte, ob ich ein Antisemit sei, so hätte ich wahrscheinlich ja gesagt. Hätte man mich weiter gefragt, warum ich ein Antisemit sei, so hätte ich geantwortet, dass mir die echtjüdischen Eigenschaften, die ich bei den mir bekannten Juden festgestellt habe, zuwider sind. Welche Eigenschaften aber waren es, die ich als echtjüdische nicht leiden mochte? Der Verfolgungswahn der Juden, ihre Neigung, alles zu bekritteln, ihren scharfen Witz, ihre Ironie, die sie gegen sich selbst und ihr Schicksal kehren, ihr familiäres Benehmen, ihre Hast. Und so weiter und so weiter. Nun, nach 18 Jahren im Exil entdecke ich alle diese „echtjüdischen Eigenschaften“ bei mir selbst. So bin ich im reifen Alter zur Erkenntnis gekommen, dass jene „echtjüdischen Eigenschaften“ gar keine jüdischen Eigenschaften sind. Es sind Eigenschaften von rechtlosen, bedrückten, gehetzten und gedemütigten Menschen. Es sind dies Eigenschaften von Emigranten. Ich habe diese Eigenschaften nicht nur bei mir, sondern bei allen meinen russischen Freunden gefunden, die gleich mir in der Verbannung ihr gehetztes Leben führen.“ – Das ist das Bekenntnis eines russischen Fürsten, mit dem er, wie ich denke, sehr weit gegangen ist. Bedenken Sie, Cukiersky, wie viel besser die Situation der russischen Emigration war, wenn sie das Jahr 1918 mit 1938 vergleichen. Den russischen Emigranten stand die ganze Welt offen. Da gab es keine Visensperre in Europa und keine Quota in USA. Selbst die deutschen Emigranten hatten es noch zwischen den Jahren 1933 und 1939 nicht so schwer, eine Zufluchtsstätte und sogar noch Arbeit zu finden. Wie so manche geschichtliche Katastrophe hat auch die wahre Emigrantenhatz mit dem Fall Österreichs begonnen. Die Russen sind noch heute die glücklichsten Emigranten der Welt. Der fürstliche Emigrant würde staunen, wenn unser Freund Petrykowski ihm in russischer Sprache erzählte, was die Pariser Polizeipräfektur mit ihm getrieben hat, ein Jahr noch vor dem Ausbruch des Krieges. Der Fürst hat 18 Jahre gebraucht, um die echtjüdischen Eigenschaften zu attrappieren. Nicht, weil er als Fürst und als ein bedeutender Gelehrter die Emigration erlebt hat, sondern weil er ein russischer Emigrant ist. Haben Sie, Cukiersky, im Stade Buffalo den Grafen erkannt, der sein Bett neben meinem hatte? Nun, Sie werden zugeben, dass dieser Graf, ein echter Edelmann in jeder Hinsicht, sich in sehr kurzer Zeit ein paar von jenen jüdischen Eigenschaften zugezogen hat, die der Fürst aufzählt. Obendrein noch eine andere dazu, die ich selbst nicht nur für eine echtjüdische, sondern für eine echt ostjüdische Eigenschaft gehalten habe: Das Schnorren. Das ist grob aber wahr und durchaus nicht trauriger, als die Ihnen vielleicht unbekannte Tatsache, dass ich selbst, der ich im Alter von vierzehn Jahren nicht nur für mich, sondern auch für meine Mutter das Auskommen verdiente, als Emigrant in Paris nach guter literarisch-jüdischer Tradition bei Rothschilds geschnorrt habe, und das mit Erfolg. Sind Sie damit zufrieden?“
Cukiersky lächelte seinen Begleiter an und meinte verschmitzt: „Sie geben also zu, dass diese Arier da schon beträchtlich jüdisch aussehen?“ – „Ohne weiteres“, antwortete dieser, „ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben. Doch wie sieht man denn nun aus, wenn man anfängt, jüdisch auszusehen?“ Cukiersky schwieg einige Zeit, weil er nachdachte. „Man fängt an, so auszusehen, wie ein Mensch aussieht, der in der Hölle war, die nicht Gott, sondern die Menschen eingerichtet haben.“ Flüsternd, als befürchtete er, der Wachtposten könnte ihn hören, fügte er leidenschaftlich hinzu: „Dieser Massenmörder. Dieser Auswurf eines Wiener Nachtasyls, dieser Führer und Kanzler des deutschen Volkes zog aus, die Juden zu vertilgen. Wie es in der Haggada heißt: „In jeder Generation steht einer gegen uns auf, um uns zu vernichten.“ Er wird sicher Hunderttausende, vielleicht Millionen Juden ermorden. Aber dieser Mörder merkt dabei nicht, dass er selbst mehr Juden macht, als er morden kann. Der Troglodyt hat ja bald alle Völker Europas zu Juden gemacht… Er hat nicht gesiegt… Er wird nie siegen. Noch hängt er nicht, der Haman… Wir werden ihn hängen… Bleiben Sie mit uns. Wir sind jetzt Hundertmillionen. Und täglich wachsen uns neue Millionen hinzu!“ Und Cukiersky lachte sein kindliches, herrliches Gelächter.