Bevor ich zu den möglichen Gründen komme, warum die Schweiz reich ist – das kann ja durchaus auch einmal aus einer anderen Perspektive beleuchtet werden – , möchte ich Ihnen erzählen, wie ich dazu gekommen bin, über die Schweiz dieserart nachzudenken. Zunächst wieder einmal der berüchtigte, journalistische „persönliche Aufhänger“…
Normalerweise laufen die Leute im Winter Ski, falls sie denn laufen und falls sie Schnee zum Skilaufen finden. Aber wohin hinab laufen, wenn kein oder zu wenig deutscher oder österreichischer Schnee in Sicht? Da wendet sich der suchende Blick in Richtung Schweiz, wo das Skilaufen in 3000 bis 4000 Metern Höhe möglich sein müsste, oder? Das war mein Gedanke in diesem Sommer, während ich im kleinen Becken unseres Freibades über eineinhalb Stunden hinweg stupide meine Bahnen zog. Eine Gruppe alter, schnatternder Damen mit Grauhaarkurzschnitt, die sich über den tagesaktuellen Dorftratsch austauschten und dabei nebenbei auch noch gehässig über Schwiegertöchter und Nachbarinnen herzog, kreuzte aggressiv immer wieder meine Schwimmspur. Gezwungenermaßen hörte ich nach den teilweise recht intimen Nestbeschmutzungen regelmäßig den im dörflichen Niederbayern beliebten Satz: Ja, mich geht es ja nichts an!“ Diese tratschenden Weiber machten mich mit der Zeit immer wütender. Was positiverweise zu einer ansteigenden Schwimmgeschwindigkeit führte. Als ich nach eineinhalb Stunden aus dem Becken stieg, hatte ich mich nicht mehr im Griff. Am Beckenrand wartete ich das Anlegen der schnatternden Graugänseschar ab, wollte ich mich doch gebührlich von ihr verabschieden: „Sie sollten sich lieber über ihre eigenen Balken vor dem Kopf unterhalten, als sich über die Splitter im Auge der anderen zu mokieren. Wer über andere herzieht und sich ständig beschwert, tut das aus Mangel an eigenem Gewicht. So alt und so gehässig. Sie alle sollten sich schämen!“ Das darauffolgende Geschimpfe aus einem halben Duzend beleidigter und gehässiger Mäuler kann man sich vorstellen. Das schrille Gejaule – den Sinn der Worte bekam ich eh nicht mehr mit, da ich mich nach meiner Ansage schnellstens aus dem Staub gemacht hatte – war weit über das Schwimmbecken hinaus zu hören. Mir egal, dachte ich, meine Badesaison in diesem Freibad ist damit für dieses Jahr beendet!
Die Schwimmerei hatte mich also auf die Idee gebracht, vor dem kommenden Weihnachtsfest in die Schweiz zum Skilaufen zu reisen. Doch was wusste ich über die Schweiz, den deutschen Mininachbarn, diesen Hort der völkischen Glückseligkeit überhaupt? Sehr wenig, eigentlich nur, was ich oberflächlich darüber gehört oder gelesen hatte. Zum Beispiel, dass Wilhelm Tell und Albert Einstein Schweizer waren, die Autobahnmaut nur für ein ganzes Jahr zu haben ist, und dass Verkehrssünder empfindlich hoch bestraft würden. Oder, dass in der Schweiz drei Sprachen gesprochen werden, Deutsch, Italienisch und Französisch, doch eigentlich vier, da es noch eine Art Ursprache, das Rätoromanisch gibt. Aus der Schweiz stammt das Käsefondue und gute, teure Schokolade. Beinahe vergessen hätte ich, dass die Schweiz das reichste Land auf dem Kontinent Europa ist, weil bei ihr der ganze Finanzglobus sein legales und illegales Geld deponiert hat. Ich schreibe bewusst „auf dem Kontinent Europa“ ist die Schweiz am reichsten, und nicht „in Europa“. Fälschlicherweise könnte man nämlich auf die Idee kommen, der Schweiz eine Mitgliedschaft in der EU anzudichten. Und da sind die Schweizer – ich nehme die persönlich gehörte Meinung von Schweizern hier vorweg – sehr, sehr empfindlich. Einen Teufel würden sie tun, um Mitglied der EU zu werden. Nein, nein, da bleiben die Schweizer lieber selbständig und weiterhin kein Mitglied, auch, wenn die Schweiz wegen der Vorteile, kein EU-Mitglied zu sein, aus Brüssel immer wieder einen Seitenhieb wegen Zoll usw. abkriegt. Die Schweizer wollen alles so lassen, wie es ist, und so, wie ich sie kennengelernt habe, bin ich mir sicher, dass sie alles so lassen werden, wie es ist. Und das ist verdammt gut so!
Die Schweiz ist ein Touristenland, darum sollte es da, erstens, so was wie Nebensaison und damit entsprechende Nebenpreise geben, zweitens, würde da garantiert Schnee liegen. Meine Wahl fiel auf das berühmte Matterhorn, doch ich hatte keine Ahnung, wo dieses Horn genau liegt oder wie hoch es ist. Ich beschloss einfach, dorthin würde ich im Dezember zum Skilaufen reisen. „Matterhorn“ kannte ich bis dato von der berühmten Schweizer „Toblerone“-Schokolade und von dem Paramount-Foto, das am Anfang von amerikanischen Filmen eingeblendet wird. So fing, während ich im kleinen Freibad wütend meine Bahnen zog, alles an mit dem mir noch unbekannten „Matterhorn“.
Der Dezember ist da, und ich habe mein Ziel erreicht, bzw. ich bin beim Skilaufen in der Schweiz. Genauer gesagt, bin ich in Zermatt, ein Dorf, das am berühmten Vorort des Matterhorns liegt. Ich sag Ihnen, hätte ich gewusst, wie mühsam und teuer die Anreise nach Zermatt wird, hätte ich beim Schwimmen über ein anderes Skilaufziel nachgedacht. Von Landshut aus, wo ich wohne, dauert die Fahrt – wohlgemerkt, mit dem Auto – sieben Stunden. Über Lindau lief die Anreise bis nach hinter Andermatt ganz flüssig und entspannt. Der Furkapass ist im Dezember gesperrt, so dass der Autozug genommen werden muss. Das Ticket für die Hin- und Rückreise kostete knapp 70 Euro. Die Be- und Entladung war entspannt, und auch der Trip durch den etwa 15 Kilometer langen dunklen Tunnel war interessant. Danach 80 Kilometer in etwa eineinhalb bis zwei Stunden auf guter und recht kurviger Straße bis nach Täsch. Die Parkhausgebühr kostet pro Tag 17 Franken und das Hin- und Rückfahrt-Ticket für den Zug von Täsch nach Zerrmatt ebenfalls 17 Franken. Da läppert sich einiges zusammen, an das ich bei Reisestart nicht gedacht hatte. Gut, dass es Kreditkarten gibt – den Gedanken der späteren, horrenden Kreditkartenabrechnung beiseiteschiebend.
Die Zugfahrt von Täsch nach Zermatt dauert etwa 15 Minuten. Genial, die berühmte Schweizer Pünktlichkeit, der Zug fährt, wie angegeben, auf die Sekunde genau los. Zugfahrt und Ankunft in Zermatt im Dunkeln, was nicht wundert, da die Nacht um den 20sten Dezember herum in den Alpen gegen 16.30 Uhr startet. Am Zermatter Bahnhofsplatz herrscht geschäftiges Treiben, doch ist kein Autolärm zu hören, aus dem einfachen Grund, es gibt in Zermatt keine Autos. Es gibt nur Elektrowagen, von denen das typische Elektrosummen zu hören ist. Alle Touristen kommen mit dem Zug nach Zermatt – fast alle, ist da einzuwenden. Die Reichen und Mächtigen müssen einen Teufel tun, sich in die Glacier-Matterhornbahn zu hocken. Sie dürfen natürlich per Hubschrauber anreisen. Da spielen Lärm und Luftverschmutzung keine Rolle; dafür gibt es einen extra Heli-Bahnhof. Wo kämen die Armen hin, mit dem gemeinen Volk aus aller Welt in einem einfachen Zugabteil zu sitzen und sich anstarren zu lassen usw.
Abgesehen von brummenden Hubschraubern über Zermatt veranstalten den größten Lärm die ankommenden und abreisenden Touris aus aller Welt. Beim Warten auf das grüne Elektrowägelchen meines Hotels komme ich mir vor, als stünde ich im Zentrum von Disneyworld. Die vorbeieilenden, bunten Menschen, die hell beleuchteten kleinen Geschäfte im Holzgewand, die summenden Elektrowagen, es ist wahrlich eine unwirkliche Welt, die sich mir da bietet. Ich befinde mich in einem asiatischen Hotspot, in dem es von Chinesen, Japanern, Koreanern, Indern nur so wimmelt. Das im Bestätigungsschreiben des Hotels angekündigte grüne Wägelchen mit einem Hirschen drauf, taucht vor mir auf, ich mache mich als Hotelgast bemerkbar. Der Fahrer schnappt sich mein Gepäck und lädt es in den Kofferraum. Er könnte Schweizer sein, doch spricht er nur Englisch mit mir. Ich bin ich mir nicht mehr sicher, von wo er wirklich kommt. Da sind noch zwei weitere Hotelgäste, zwei ältere Frauen mit grauem Kurzhaarschnitt; es könnten Japanerinnen sein. Grußlos und mit stierem Blick setzen sich beide gegenüber. Aha, es gibt die Graugänse also nicht nur im dörflichen Freibad, sondern auch in Zermatt. Ich denke gehässig, dass sie mit ihrem bürstenartigen Haarschnitt und feindseligem Blick wie Kampflesben aussehen, die ihre sexuelle Andersartigkeit aggressiv wie eine Monstranz vor sich hertragen. So was mag ich nicht, denn ich finde mich von dem Gegenüber genötigt, Homosexualität toll zu finden. Ist mir doch wurscht, wer was mit wem, solange ich nicht etwas zu sein oder zu tun habe, was ich nicht möchte. Ich bin und bleibe Heterofrau – und das ist gut so! Die angespannte Fahrt durch Zermatt mit den mir gegenübersitzenden japanischen Graugänsen dauert länger, als sie tatsächlich ist. Das Wägelchen kurvt durch kleine Gassen und muss immer wieder hupen und auf Schritttempo reduzieren, weil die Fußgänger den Weg in Anspruch nehmen. Das Hotel ist drei-sternig, kostet aber so viel wie ein deutsches Vierplus-Sternehotel. Ich bekomme ein Appartement mit Blick auf das Matterhorn. Am darauffolgenden Morgen reiße ich voller Erwartung die Vorhänge auf und suche der Schweiz berühmtesten Berg, wegen dem ich da bin. Mist! Nichts zu sehen von ihm, alles nur wolkenverhangen. Ich sehe hohe Berge, die Zermatt einkesseln. Ich verstehe, warum der Quadratmeterpreis hier so astronomisch hoch ist: Kein Platz mehr da zum Bebauen oder Zersiedeln. Die Zermatter Ureinwohner werden bald ausgestorben sein. Ihr Erbe wird aufgekauft von gierigen, mächtigen Händen, gewissermaßen ein Ausverkauf von Schweizer Boden an die „Grauen Herren“, die der in Garmisch geborene Kinderbuchautor Michael Ende in „Momo“ treffend beschrieben hat. Meine Gedanken deprimieren mich, und das auch noch vor dem Frühstück; denn dieses ist okay und nicht zu beanstanden. Meine Skier habe ich im Auto, das in der Parkgarage im Bahnhof pro Tag für 17 Franken abgestellt ist, gelassen. Es ist geplant, Skier des Schweizer Herstellers Stöckli zu testen. Dazu soll ich mit der Gondel – Ticket im Pauschalpreis inbegriffen – hinauf an den Fuß des Matterhorns zum Trockensteg gondeln. Das klappt nicht, weil dort oben auf 3500 Metern wegen starkem Wind und Schneefall alles geschlossen ist. Shit Happens! Soll ich jetzt zurück ins Hotel und einen Reiseführer über die Schweiz lesen? Ich telefoniere mich verärgert durch die Schweiz, lasse mich einige Male mit dem Organisator von Stöckli verbinden. Am Ende ist es so, dass ich mit dem Elektrobus zurück zum Bahnhof fahre und dort in einem Sportgeschäft am frühen Nachmittag das erste Paar Test-Ski bekomme. Auf zur Bahn,
Leider strahlt es nicht im Sonnenschein vor mir, das Matterhorn. Es gibt keine Selfies mit ihm, die ich angeberisch auf den Status stellen könnte. Es steht irgendwo zwischen anderen Bergen, die um Zermatt wie 360-Grad-Wände aufgerichtet sind, und ist von dicken Wolken eingehüllt. Schneewolken, füge ich hinzu, denn seit gestern Abend schneit es hier wie wild. Ich hoffe auf besseres Wetter und Glück für den nächsten Tag.
Der Schneefall und die schlechte Sicht locken nur wenig Skifahrer auf den Berg. Allerdings werden Pistenraser nicht davon abgehalten, die Hänge viel zu schnell runter zu schießen und andere zu gefährden. Idioten gibt es halt überall. Am frühen Abend mache ich mich an die Talabfahrt und fahre an vielen Asiaten vorbei, die am Rande von vereisten Pisten hängen. Ich frage mich, wie die wohl herunterkommen werden.
Die Nacht war schlaflos, und als es zu dämmern anfing, stand ich auf, um nach dem Matterhorn zu schauen. Es war da, und wie es da war. Mächtig und vor einem wolkenlosen Himmel ragte es in den noch grauen Himmel empor. Ja, ich war von dem grandiosen Anblick fasziniert. Meine kalten, sich ins Blau verfärbenden Füße holten mich aus der Glotzstarre. An diesem Tag war die Gondel zum Trockenen Steg bis Mittag leider wieder gesperrt worden wegen zu starkem Wind. Aus der Not heraus wählte ich den Zug, von dem ich zunächst nicht glauben konnte, dass dieser bis zum Gornergrat in Höhe von 3.089 Meter fahren würde. Und er tuckerte tatsächlich hoch. Es war eine herrliche Zugfahrt, und ich war fast beleidigt, als ich, oben angekommen, mit dem Skizeug in die Kälte aussteigen musste. Vor meiner Nase das Matterhorn im Sonnenschein. In diesen Augenblicken bereute ich die Reise nach Zermatt überhaupt nicht mehr. Die Abfahrten waren grandios, da es Neuschnee gegeben hatte und sich noch nicht zu viele asiatische Skianfänger auf den Hängen tummelten. Das Matterhorn und ich verbrachten einen unvergesslichen Tag zusammen.
Während ich die Berge im Tiefschnee hinabglitt und die Berge mit dem Gondeln hinaufgondelte, und später, während ich bei der Rückfahrt im Zug nach Täsch, im Autozug nach Furka, im Auto über Andermatt und überhaupt durch die Schweiz zurück nach Deutschland fuhr, dachte ich über dieses kurios-faszinierende Land nach. Ich fragte mich, ob ich da leben und arbeiten wollte, und wusste und weiß es immer noch nicht. #
Ich erlaube mir nun, das Phänomen Schweiz aus einer höheren, nennen wir es Feng-Shui-Perspektive, zu betrachten.
Fortsetzung folgt…